Göring: Eine Karriere (German Edition)
23. April traf der General müde und staubig in Görings Domizil ein. Der befand sich gerade in Gesellschaft seines Chefadjutanten von Brauchitsch und des Reichsleiters Bouhler, als Koller die Neuigkeiten aus Berlin überbrachte: Hitler, erzählte Koller, habe sich aufgegeben, den Entschluss gefasst, im »Führer«-Bunker in Berlin zu bleiben und sich im letzten Augenblick zu erschießen. Als ihn die Anwesenden bestürmt hätten, weiterzukämpfen, habe er nur geantwortet: »Was heißt kämpfen? Da ist nicht mehr viel zu kämpfen, und wenn’s aufs Verhandeln ankommt, das kann der Reichsmarschall besser als ich.« Das vermeintliche Lob – und dies verschwieg Koller – war freilich erst durch einen bösen Seitenhieb gegen Göring zustande gekommen: Auf Hitlers Lamento, dass doch alles auseinander ginge, er könne das nicht, und das solle dann der Reichmarschall machen, war aus dem Kreis der Anwesenden die höhnische Bemerkung gefallen: Kein Soldat werde an der Seite des Reichsmarschalls kämpfen.
Göring sei auf seinen Bericht hin betroffen, aber nicht besonders erstaunt gewesen, berichtete Koller später. Ganz genau habe der Reichsmarschall sich die militärische Lage in und um Berlin erläutern lassen und sich erkundigt, ob Hitler noch lebe und ob er seinen Entschluss nochmals ändern könne. Koller und Bouhler versuchten seine Zweifel auszuräumen. Selbst wenn dies geschehe, erklärten sie, sei es Sache des Reichsmarschalls, nun zu handeln, da Hitler sich mit seiner Entscheidung zum »Stadtkommandanten von Berlin« gemacht und praktisch selbsttätig von der Führung des Staates und der Wehrmacht ausgeschaltet habe. Obwohl Göring diese Auffassung teilte, hatte er seine Bedenken. Seine größte Sorge galt der Frage, ob Hitler seinen ewigen Rivalen Bormann inzwischen an seiner statt zum Stellvertreter oder Nachfolger bestellt habe. »Bormann ist mein Todfeind«, erklärte Göring. »Der wartet nur darauf, mich umzulegen. Handle ich jetzt, stempelt man mich zum Verräter, handle ich nicht, macht man mir zum Vorwurf, dass ich in den schwersten Stunden versagt habe.«
Mit zwiespältigen Gefühlen holte er vor den Augen Kollers und Bouhlers aus einer Stahlkassette das Gesetz vom 29. Juni 1941, um sich noch einmal den Wortlaut der von Hitler getroffenen Nachfolgeregelung zu vergegenwärtigen. »Wenn ich in meiner Handlungsfreiheit beschränkt sein oder durch irgendwelche Ereignisse ausfallen sollte, so ist der Reichsmarschall Hermann Göring mein Stellvertreter beziehungsweise Nachfolger in allen Ämtern von Staat, Partei und Wehrmacht.« Noch immer im Zweifel, ob es nun an ihm war, die Stelle als legitimer Nachfolger einzunehmen und rechtskräftig zu machen, zog Göring den Chef der Präsidialkanzlei, Reichsminister Lammers, hinzu, der das Gesetz für gültig erklärte. Endlich schlug Koller vor, Göring möge alle Unsicherheiten per Funkspruch an Hitler aus dem Weg räumen. Der Reichsmarschall selbst diktierte einen langen, schwülstigen Funkspruch, der viele Beteuerungen enthielt und zu umfangreich war, um in dieser Form gesendet zu werden. Schließlich wurden Koller und Brauchitsch jeweils mit einem Entwurf beauftragt. Nach einigem Hin und Her setzte Göring am Nachmittag folgendes Telegramm an Hitler ab: »Mein Führer, sind Sie einverstanden, dass ich nach Ihrem Entschluss, in der Festung Berlin auszuharren, auf Grund des Gesetzes vom 29. 6. 41 nunmehr die Gesamtführung des Reiches mit allen Vollmachten nach innen und außen übernehme? Wenn ich bis 22 Uhr keine Antwort erhalte, nehme ich an, dass Sie Ihrer Handlungsfreiheit beraubt sind, und werde ich die Bedingungen Ihres Gesetzes als gegeben betrachten und nach eigenem Ermessen aufs beste für die Interessen unseres Landes und Volkes handeln. Was ich in dieser schwersten Stunde meines Lebens empfinde, kann ich nicht aussprechen. Der Herrgott schütze Sie, und ich hoffe, dass Sie doch noch aus Berlin hierher kommen. Ihr getreuer Hermann Göring.«
Um sicherzugehen, dass die Übermittlung des Telegramms in den »Führer«-Bunker reibungslos funktionierte, ließ Göring die Funkerstelle eigens zu diesem Zweck mit einem Generalstabsmajor besetzen. Im Anschluss an das Telegramm an Hitler ordnete Göring weitere Funksprüche an. Oberst von Below, der Luftwaffenadjutant Hitlers, sollte gewährleisten, dass dieser Görings Telegramm im Wortlaut erhielt. An OKW-Chef Keitel sowie an Außenminister von Ribbentrop erging die Order: »Wenn Sie bis 23. 4. 45, 24 Uhr,
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