Gößling, Andreas
sagte er. »Nur einen Moment.«
»Warum? Was ist los?«
Weil wir sonst mit deinem Spukbruder zusammen rennen. Das konnte, wollte er ihr nicht sagen. Der Junge – Jakob – hatte scharf nach links abgedreht und rannte jetzt geradewegs auf sie zu. Die vordersten Wölfe hatten schon zum Sprung angesetzt, um ihn zu Boden zu reißen, ihre Zähne in sein Fleisch zu schlagen. Nun aber sprangen sie ins Leere und die ganze Meute verhedderte sich zu einem wüsten Knäuel aus Wolfs-, Pferde-, Jägerleibern. Währenddessen hatte der Junge den Pfad erreicht, auf dem Billa und Marian standen. Noch immer schienen Bruder und Schwester einander nicht zu sehen. »Billa, hilf mir«, flüsterte Jakob erneut. Dann brach er zwei Schritte vor ihnen beiden zusammen. »Ich kann nicht mehr. Es ist aus«, wimmerte er.
Doch da begannen die Wölfe wieder zu heulen und der Wald bebte unter den Hufschlägen der Pferde. »Agarr!«, schrien die Jäger.
Jakob rappelte sich noch einmal auf. Kroch auf allen vieren, mit seiner allerletzten Kraft, auf einen Dornbusch zu. Er versuchte, sich hineinzuzwängen, obwohl die Dornenranken ihm die Haut aufrissen, ihre Stacheln in sein Fleisch bohrten. Blut lief ihm an den Armen runter, tropfte ihm von Stirn und Wangen.
»Jakob«, flüsterte Billa. »Jakob!«, schrie sie und wollte zu ihm rennen, aber Marian hielt sie eisern fest. »Lass mich«, kreischte sie, »da drüben ist Jakob, ich muss ihm helfen, er blutet, oh mein Gott – lass mich doch los!«
Tiefer und tiefer kroch der Junge in den Dornbusch hin ein. »Billa«, flüsterte er, und »Jakob!« schrie Billa und riss so heftig an Marians Hand, dass er sie nicht länger halten konnte. Sie rannte zu dem Dornbusch, warf sich davor zu Boden, wollte Jakob an den Füßen packen. »Jakob«, flüsterte sie, aber da war weit und breit niemand – keine Jäger, kein Jakob, kein blutendes Mädchen im Busch.
Marian trat hinter sie, legte ihr behutsam eine Hand auf die Schulter. »Billa«, sagte er leise, »das war nur Spuk.«
Sie drehte sich um zu ihm, ihre Augen voller Tränen. »Aber ich hab ihn gesehen«, flüsterte sie. »Er war da!«
»Ich hab ihn auch gesehen«, sagte Marian. »Aber ich glaub trotzdem nicht …«
Er brach ab. Billa war herumgefahren. Sie beide starr ten auf den Dornbusch, aus dem lautes Krachen und Knir schen ertönte. Es klang, als ob sich ein größeres Lebewe sen mit aller Macht aus dem Gestrüpp hervorkämpfte. Tatsächlich sahen sie jetzt, wie zwischen Ästen und Dor nen eine leuchtend bunte Kreatur emporstieg. Gleich dar auf brach oben aus dem Busch ein mächtiger Papagei her vor. Mit kraftvollem Flügelschlag stieg er auf, kreiste über ihren Köpfen. »Jaaa – kob!«, rief er so klar und deut lich, wie Papageien überhaupt sprechen können. Und war gleich darauf von der Dämmernis verschluckt.
Billa schaute ihm hinterher. »Jakob«, flüsterte sie traumverloren.
Sie gingen weiter, aufs Neue Hand in Hand. Dohlen kreisten um ihre Köpfe, spien schwarze Galle auf sie hernieder. Die Erde tat sich vor ihnen auf, moderköpfige Leichen stiegen empor und stießen grässliche Gurgellau te aus. Blutspeier hingen kopfüber von den Bäumen und spuckten ihre zerplatzenden Herzen vor Marian auf den Weg. Schwefelgelb, pechschwarz. Aus den Dornbüschen brachen gefangene Mädchen hervor, Haut und Fleisch hingen fetzenweise von ihnen runter, sodass Billa ihre blanken Knochen durchschimmern sah.
Doch keine dieser schauerlichen Erscheinungen vermochte sie von ihrem Weg abzubringen. Durch die Begegnung mit Jakob verblassten alle anderen Trugbilder. Sie beide sahen nur immer wieder vor sich, wie der Pa pagei aus dem Dornbusch aufgestiegen war, in allen Regenbogenfarben leuchtend.
»Er hat ›Jakob‹ gerufen«, sagte Billa. »Das hast du doch auch gehört?«
Marian nickte. Obwohl ihre Gesichter mit den Wehrtüchern verhüllt waren, sah er ganz deutlich, dass Billa lächelte.
»Bleib stehen«, sagte sie.
»Warum?«
»Schau – da oben.«
Er sah in die Richtung, in die ihr Fingerhut wies.
Schroff erhob sich vor ihnen der Hexenhügel. Die gi gantische Steinplatte, die ganz da oben auf dem flachen Gipfel schräg emporragte, sah tatsächlich wie der Oberkiefer eines weit aufgerissenen Drachenmauls aus.
»Deine Amulette«, sagte Marian. »Hast du sie alle an?«
»Ich glaub schon.« Sie legte ihm einen Arm um die Schultern und zog ihn nah zu sich heran. »Bisher war Sylvenia still«, flüsterte sie. »Aber jetzt spür ich, wie sie zu sich
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