Gößling, Andreas
Rücken. Als wäre er schon hundertmal hingefallen, hätte sich aufgerappelt, wäre schreiend weitergerannt. Alle paar Meter drehte er sich im Rennen um, keuchte vor Entsetzen noch heftiger, rannte stolpernd weiter.
Hinter ihm sieben Wölfe, jeder einzelne so mager, dass sich die Rippen unter dem grauen Fell abzeichneten. Mit gelb glühenden Augen, heraushängenden Zungen hechelten sie dem Jungen hinterher. Dicht hinter den Wölfen sprengte ein Dutzend wildbärtiger Männer auf struppigen Pferden durchs Dickicht – in Fuchs- oder Bä renfellhosen, die Gesichter und Oberkörper mit blutroten, pechschwarzen Zeichen bemalt. Die Wölfe heulten um die Wette und die Männer schwangen ihre Äxte und Speere und stießen Kampfschreie aus. »Agarr!«
Dem Jungen ging mehr und mehr die Luft aus. Er geriet immer öfter ins Stolpern und jedes Mal rückten seine Verfolger dichter auf. Zum Schreien hatte er keine Kraft mehr – er schluchzte und weinte nur noch ganz leise. Aber Marian hörte trotzdem klar und deutlich, was der Junge da in sich hineinwimmerte: »Billa, hilf mir. Oh mein Gott, wo bin ich hier nur?«
Und die Wölfe heulten und die Jäger schrien »Agarr!«, und ein Glück nur, dass Billa von alledem nichts mitbekam. Sie zuckte alle paar Schritte zusammen und dann krampfte sich ihre Hand jedes Mal um Marians Linke. Aber sie schaute starr geradeaus – auf ihre linke Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger, auf dem der Fingerhut steckte. Auf den Pfad, der sich vage im Gestrüpp vor ihnen abzeichnete. Auf die blühenden Dornbüsche am Wegrand, die nur Billa sah, von denen sie ihm heiser flüsternd immer wieder erzählte: in jedem Busch ein ge fangenes Mädchen, das sich verzweifelt aus seinem Dornenkerker zu befreien versuchte. Aber mit jeder Bewegung stach und kratzte es sich nur noch ärger blu tig. »Die roten Beeren, siehst du nicht die Beeren, Marian?« Billa schaute ihn ganz verzweifelt an. »Berühr sie nicht, hörst du – das ist alles Blut!«
»Mach ich ja nicht«, gab er zurück. »Weißt du noch, wo’s langgeht?«
Denn in dem Fingerhut, den Billa damals von Klotha bekommen hatte, war nur noch ganz wenig Hexenlehm. Vor drei Jahren hatte er ihr durch Ziehen im ganzen Fin ger signalisiert, welchen Weg sie nehmen musste. Diesmal aber war es nur ein schwaches Kribbeln in der Fingerspitze und auch das setzte ab und zu einfach aus.
»Da vorn müssen wir hoch«, flüsterte ihm Billa ins Ohr.
Er umfasste ihre Hand so fest, dass es fast schon weh tun musste. Aber so hatten sie es heute früh besprochen, bevor sie in der ersten Morgendämmerung in den Bannwald gegangen waren. Durch das Tor hinterm Lo genhaus, denn tatsächlich passte der Schlüssel von Meister Godobert auch dort. Von niemandem beachtet, waren sie durch das vordere Tor hereingekommen, dann links am ehemals Hegendahl’schen Gutshaus vorbei in den Hinterhof.
Niemals waren ihm das Brausen der Bäume, das To sen des Sturms, die Schreie der Vögel da draußen bedrohlicher erschienen. Eine fremde, übermächtige Welt. Aber sie hatten keine Wahl. Also hatten sie ihre Schutztücher übergeworfen und das Tor geöffnet.
Aneinandergeklammert gingen sie weiter, betäubt vom Ächzen und Knarren der Bäume, von dem Entsetzen, das in ihnen umherschlich. Überall in den Wipfeln lauernde Augenpaare, grün glühend, lodernd rot. Alle paar Schritte brach linkerhand aus dem Unterholz eine grässliche Kre atur – ein Mensch der Gestalt nach, aber mit einem Echsenpanzer anstelle von Haut. Er fiel vor ihnen auf die Knie, warf den Kopf zurück und riss den Mund wie zu einem Angst- oder Schmerzensschrei auf. Doch stattdessen schoss ein Blutstrahl aus seinem Rachen empor, mal schwefelgelb, mal tintenschwarz. Und dann brach er zusammen, rollte tot zur Seite und drei Schritte weiter be gann alles von vorn.
Auch die Blutspeier schien Billa nicht zu bemerken, und Marian hütete sich, ihr von den echsenhäutigen Er scheinungen zu erzählen. So wie er auch mit keiner Silbe erwähnte, dass allem Anschein nach Jakob neben ihnen durchs Unterholz stolperte. Um sein Leben rannte, torkelte, taumelte – ein schmächtiger Junge, dem Marian vor ein paar Jahren tatsächlich ein wenig geähnelt hatte.
Billa blieb unvermittelt stehen. »Warte«, flüsterte sie, »ich spür’s nicht mehr.« Sie hob ihre linke Hand und drückte den Fingerhut gegen ihr Kinn. »Da ist es wieder«, sagte sie, »aber total schwach.«
Sie wollte weitergehen, doch er hielt sie zurück. »Warte noch«,
Weitere Kostenlose Bücher