Gößling, Andreas
weiß der Teufel was für einer Katastrophe retten – wenn ich nicht den geringsten Schimmer habe, wo ich anfangen soll?
Durch den Boden unter seinen Füßen hörte er wieder die monotonen Chorgesänge der Logenbrüder. Wen oder was mochten sie anrufen – einen Planetengeist? Einen G*L*M? Während er den Anrufungen lauschte, meinte er neuerlich zu spüren, wie das Talmibro in seiner Tasche ein Zucken überlief.
Er zog es hervor. Was hatte Marthelm geschrieben? »Lerne das Talmibro zu gebrauchen, dann wirst du alles begreifen.« Also brauchte er sich durch diese Büchergebirge überhaupt nicht hindurchzuquälen, wenn er nur herausbekam, was es mit dem Talmibro auf sich hatte?
Er nahm es in beide Hände und zog es aufs Neue entlang des diagonalen Spalts auf. Diesmal spürte er keinerlei Widerstand, oder vielleicht hatte er die beiden Hälften auch stärker als beim letzten Mal auseinandergerissen, jedenfalls geschah nun etwas äußerst Sonderbares. Das Talmibro ließ sich nicht nur einfach aufklappen – die diagonalen Hälften dehnten sich immer weiter auseinander, solange er daran zog. Sie wurden größer und größer und mit ihnen wuchsen auch die zeilenweise angeordneten Zeichen auf den »Seiten« dieses sonderbaren Buchs. Sowie er ein wenig nachgab, zogen sich die Hälften ganz langsam wieder zusammen – eher wie der Muskel eines trägen Urzeittiers als wie ein Gummiband oder sonst etwas Unbelebtes.
Die Freimaurer unter ihm murmelten und sangen, doch Marian bekam es kaum mehr mit. Wieder musste er sich beherrschen, damit er das Ding nicht einfach wegwarf oder aus den Händen fallen ließ – vor Ekel, vor Panik. Aber seine Neugier war stärker – er musste jetzt endlich herausbekommen, was mit dem Talmibro los war.
Statt links und rechts packte er es nun oben und unten und zog es auch in der Vertikalen so kräftig auseinander, dass er ein Knirschen und leises Schmatzen zu hören meinte. Das Ding wollte anscheinend nicht, dass man es weit und immer weiter öffnete, aber er ließ sich nicht davon abbringen. Tatsächlich ließ es sich auf diese Weise auch am Kopf und Fuß der grau schimmernden »Buchseiten« auseinanderziehen.
Schwankend zwischen Faszination und Grauen, riss und zerrte Marian immer heftiger an dem Talmibro herum. Er schwitzte und keuchte, denn das Ding wehrte sich still und zäh. Sowie er ein wenig nachgab, zog es sich wieder ein Stück zusammen. Vor Anstrengung rutschten schließlich seine Augen ein wenig nach innen – und da erst wurde ihm klar, dass nicht nur die Zeichen auf den »Seiten« des Talmibro immer größer wurden, je kräftiger er sie auseinanderzog.
Der Innere des Talmibro war wieder durchsichtig geworden – ein magisches Fenster in jene andere Welt. Doch nun war dieser Durchguck so groß, dass Marian auf der anderen Seite alles klar und deutlich erkennen konnte. Wieder erblickte er den Jungen, der an seinem Studierpult in einer kümmerlichen Kammer stand. Marian sah ihn von hinten, er schaute ihm über die Schulter, und so konnte er ganz genau sehen, was dieser andere da drüben im Licht einer dicken Kerze las. Er schien ein Student oder Schüler zu sein, vielleicht ein, zwei Jahre älter als er selbst. Er trug eng anliegende Kniehosen und ein unförmiges Hemd von bleigrauer Farbe. Diese Kleidung und die ganze Einrichtung der Kammer wirkten unwahrscheinlich altertümlich. Aber wie war es nur möglich, dass er durch das Talmibro hindurch all diese Einzelheiten sehen konnte?
Der Student oder Schüler dort drüben blätterte sein Buch um und beugte sich tiefer über das Pult. Offenbar versuchte er angestrengt zu entziffern, was da geschrieben stand. Unwillkürlich machte es ihm Marian nach und begann murmelnd mitzulesen, was in verschnörkelten Schriftzeichen in dem dicken Buch verzeichnet war: »Bormilatus … Bormilatus … Bormilatus.«
Ähnlich wie die Freimaurer in dem Raum unter ihm ihre Anrufungen sangen, murmelten Marian und der Junge auf der anderen Seite wieder und wieder dieses eine unverständliche Wort. Marian spürte eine Art Luftzug, der langsam stärker wurde. Zuerst war es nur so, als ob hinter ihm eine Tür aufgegangen wäre. Dann schien Wind hineinzuwirbeln und schob ihn sachte voran. Im nächsten Augenblick war es schon ein übermächtiger Sog, der ihn nach vorn riss, in das Talmibro hinein, das er doch gleichzeitig noch immer zwischen den ausgebreiteten Armen hielt.
13
»Schwärzer als schwarz ist das Chaos – ein kosmischer Kobold, ein von Gestirn
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