Gößling, Andreas
hatte. Aber wie war das möglich?
Anstelle seiner Jeans hatte er ein absurdes Kleidungsstück wie aus dem Museum an. Das Hosending reichte ihm nur eben so bis unter die Knie. Es war fast so eng wie eine Frauen- oder Kinderstrumpfhose, aus grobem Webstoff und von hässlicher erdbrauner Farbe. Desto weiter war das Hemd, das ihm irgendjemand als Ersatz für sein T-Shirt übergezogen hatte – ein formloses, sackartiges Etwas, von bleiernem Grau und mit Flecken in abstoßenden Gelb- und Grüntönen übersät.
Das ist ja ekelhaft, dachte Marian, genauso widerlich wie diese speckig glänzenden Schuhe mit den hölzernen Sohlen, die sie ihm an die Füße gebunden hatten. Er wollte sie aufmachen, abschütteln, sich von diesem ganzen Albtraumzeug befreien – da klopfte es an die Kammertür.
Wieder erstarrte er. Was jetzt? Wild sah er um sich – kein Versteck weit und breit. Und da ging die Tür auch schon auf und eine überaus hübsche junge Frau trat ein. Sie trug ein bodenlanges weißes Schlafgewand und eine ebenso weiße Haube, die ihr schwarzes Haar größtenteils verbarg. Ihre Haut war hell und rein, ihre Lippen voll und rot. Sie hielt eine Laterne in der Hand – einen bunten Glasbehälter, in dem eine Kerze leuchtete. »Will Er nicht endlich zu Bett gehen, Julian?«, fragte sie mit einem scheuen Lächeln. »Es ist schon tief in der Nacht und morgen muss Er zeitig hinab ins Labor.«
Ich bin nicht Julian, wollte er sagen. Doch stattdessen verneigte er sich vor dem Mädchen, das ihn aus hellblauen Augen erwartungsvoll ansah. »Sofort, junge Herrin«, sagte er.
Die Anrede schien seltsamerweise ernst gemeint. Die junge Frau jedenfalls dankte ihm mit einem huldvollen Nicken. Sie hob ihre Laterne höher und trat in die Kammer, so nah vor ihn, dass er ihren frischen Atem und den süßen Duft ihrer Haut riechen konnte. Dann schloss sie die Augen und legte den Kopf in den Nacken – anscheinend erwartete sie, dass er sie auf ihre prangend roten Lippen küsste.
Doch er hielt nur kurz die Luft an und wandte sich dann von dem Mädchen ab. »Eine gute Nacht wünsche ich, Jungfer Hildegunde«, sagte er leichthin.
Da schlug sie die Augen wieder auf und ging zurück zur offenen Tür. Auf der Schwelle lächelte sie ihn noch einmal an. »Schlaf Er auch gut, Julian Hallthau.« Damit zog sie die Tür hinter sich zu und ließ ihn in seiner Kammer allein zurück.
Oder wohl eher zu zweit.
14
Julian Hallthau trat wieder an sein Stehpult. Notgedrungen musste Marian mitgehen – allem Anschein nach hatte ihn das Talmibro in den Körper dieses anderen Jungen katapultiert. Jedenfalls konnte er sich nur so erklären, was mit ihm passiert war. Wie er in diese altertümliche Kammer auf der anderen Seite des Talmibro geraten war, wo er sich auch noch den Körper dieses Julian mit seinem rechtmäßigen Besitzer teilen musste. Und der war offenbar auch kein Schüler oder Student, wie Marian geglaubt hatte, sondern Lehrling oder Gehilfe eines Apothekers .
Vor allem aber schien Julian eine starke Persönlichkeit zu sein. Er trat an sein Pult, löschte die Kerze in der Wandnische – und Marian konnte nichts dagegen tun. Er schlug das Buch auf der Pultplatte zu und wandte sich zu seinem Bett um – anscheinend wollte er sich hinlegen und schlafen. Marian versuchte, ihn zu dem Buch zurückzulenken, aber es ging nicht. Das machte ihn wütend: In einem Computerspiel wäre Julian jetzt sein Avatar, dachte er. Wie kam dieser künstliche Doppelgänger dazu, sich seinen Befehlen zu widersetzen? Aber genau das war offenbar der Unterschied: Julian war kein virtuelles Double, sondern – wie er selbst – ein Mensch aus Fleisch und Blut.
Aber wie komme ich dann wieder von hier weg?, dachte Marian. Dafür brauchte er schließlich die Hände und was sonst noch alles von Julian!
Doch der gähnte nur herzhaft, bückte sich und knotete seinen rechten Schuh auf. Diese Gelegenheit nutzte Ma rian, indem er wild auf dem Boden umherspähte – irgendwo musste das blöde Talmibro doch hingerollt sein! Aber er konnte es weder unter dem Pult noch unter der Truhe entdecken. Und was noch viel ärger war: Er selbst wurde mehr und mehr zu Julian Hallthau. Seine Erinnerung wurde nebelhaft. Nur noch mit Mühe konnte er sich entsinnen, wer und wo er vorher gewesen war.
Ich heiße Marian Hegendahl, schärfte er sich ein. Ich komme aus dem dritten Jahrtausend. Ich war in der Bibliothek im Gutshaus meines Urgroßonkels. Und ich will auf der Stelle dorthin zurück.
Diese
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