Gößling, Andreas
Deckel auf und starrte längere Zeit auf das Zifferblatt. »Gleich zwölf«, sagte er. »Um vier Uhr komme ich dich holen.« Er bedeutete Marian, in die Bibliothek zu gehen. »Bleib unter allen Umständen da drin«, sagte er noch. »Was auch geschieht und was immer du möglicherweise hörst.« Ohne eine Antwort abzuwarten, schloss er die Tür und ließ Marian allein.
Zwölf Uhr war eine gute Zeit, um das Talmibro zu öffnen – bei Julian war es jetzt neun Uhr abends. Aber Marian würde trotzdem nicht zu ihm hinübergehen, nicht jetzt.
Die Hammerschläge tief unten im Keller ließen Wände und Decken vibrieren. Sogar die Bücher erbebten in ihren Borden. Mehrere der schweren Lederwälzer rutschten aus den Regalen und fielen klatschend zu Boden. Bald darauf wurde das Hämmern leiser, aber dafür begann zusätzlich wieder der dumpfe Sprechgesang.
Nein, auch hier oben konnte er nicht bleiben. In den alten Schwarten nach weiteren Offenbarungen über den Golemzauber zu suchen – unmöglich. Er könnte sich jetzt sowieso nicht auf ein Buch konzentrieren. Mit seinen Gedanken war er mal bei den Logenbrüdern, mal bei Billa und ihrem Zwillingsbruder Jakob. Vor drei Jahren hier in Croplin verschwunden – und sie glaubte wirklich, dass er sich damals im verwunschenen Bannwald verirrt hatte? Verdammt, Billa, ich glaub’s ja auch. Jedenfalls fast.
Das Hämmern und Rufen hörte mit einem Schlag auf. Die plötzliche Stille war noch unheimlicher als vorher das monotone Lärmen. Marian hielt es nicht mehr aus – und wenn Torgas mich zur Strafe nie mehr ins Logenhaus lässt, dachte er, ich muss rausfinden, was sie da unten machen.
Auf lautlosen Pumasohlen ging er zur Tür, zog sie auf, lauschte nach draußen. Weit und breit nichts zu hören. Schon war er bei der Treppe, machte sich so leicht wie möglich, wich den schadhaften Stellen aus, die gestern unter seinen Tritten besonders geächzt und geknarrt hatten.
Aber er hätte genauso gut auf Julians Holzsohlen herumpoltern können – auch in der Halle war niemand zu hören und zu sehen. Das ganze Haus schien wieder wie ausgestorben, zumindest der oberirdische Teil.
Halb war er drauf gefasst, dass Torgas vorsorglich die Kellertür unter der Treppenkehre verriegelt hatte. Aber als er die Klinke runterdrückte, ließ sie sich widerstandslos öffnen. Er zog sie einen Spaltbreit auf, hielt den Atem an und lauschte erneut.
Schlurfende Schritte. Unten war das funzlige Licht eingeschaltet. Schemenhafte Gestalten marschierten eine hinter der anderen durch den Gang. Immer wenn eine an der Treppe nach oben vorbeikam, warf sie einen riesenhaften Schatten an die Wand unter Marian. Aber es waren keine wirklichen Riesen, und sie bewegten sich auch nicht mit den stampfenden Schritten der Golems aus seiner Horrorvision: Die Kerle da unten schlurften und keuchten wie alte Männer, die bis zur Erschöpfung ir gendwelches schweres Zeug durch die Gegend schleppten.
Marian machte sich an den Abstieg. Ihm war ziemlich beklommen zumute, doch übermäßig nervös fühlte er sich nicht. Schließlich war er ja schon zweimal hier unten herumgeschlichen – einmal mit Julian, dann auf eigene Faust. Das wurde also fast schon zur Routine, wenn auch nur die erste Hälfte der Expedition. An den zweiten Teil, hinter der aufgebrochenen Mauer, wollte er lieber noch nicht denken.
Stufe um Stufe schlich er durch den dunklen Treppenschacht hinab, eng an die Wand gedrückt. Auf der drittletzten Stufe blieb er stehen und beobachtete mit angehaltenem Atem, was die Logenbrüder im Gang da unten trieben.
Von rechts kam eine ganze Kolonne alter Männer in staubigen schwarzen Anzügen angeschlurft, von der aufgebrochenen Mauer her. Jeder von ihnen trug einen solchen würfelförmigen schwarzen Kasten, wie Marian sie gestern schon hier unten bei ihnen gesehen hatte. Genau so einen Kasten hatte Godobert auch zu Marthelms Grab mitgebracht, fiel ihm ein – mit dem Totenschädel und einer Art Lorbeerkranz drin.
Aber was mochte in all diesen Kisten sein, die die Logenbrüder aus dem tieferen Keller emporschleppten? Und wo trugen sie ihre Lasten hin? Sie gingen nach links weiter, wo der Gang vor den drei Fensterluken in der Rückfront des Hauses endete. Von dort kamen ihnen noch mehr alte Männer, genauso erschöpft und verstaubt, entgegen – mit leeren Händen, da sie ihre Last offenbar da drüben losgeworden waren.
Eine Weile beobachtete Marian dieses seltsame Treiben. Endlich schien es im tieferen Keller keine
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