Gößling, Andreas
Anfang der Herrengasse ging Julian hinter einer Hausecke erneut in Deckung. »Soll ich so lange auf dein Bündel aufpassen?«, flüsterte er.
»Nicht nötig.« Piet schüttelte grinsend den Kopf. Im nächsten Moment schlenderte er schon, die Daumen in den Gürtel eingehängt, auf die Apotheke »Am Bürgerspital« zu.
Ängstlich spähte ihm Julian hinterher. Im bleichen Licht der Mondsichel sah sogar Piet fast wie ein Nachtgespenst aus. Doch vor der Apothekentür schienen sich keinerlei verdächtige Gestalten herumzutreiben. Allerdings konnte der Großmächtige Meister seine Lichtträger angewiesen haben, drinnen im Haus, auf der Treppe oder sogar oben in der Kammer, auf den verräterischen Raben zu warten.
Wie dumm von mir, dachte Julian, dass ich Piet losgeschickt habe. Bloß wegen dieser Alchimistenschwarte eine solche Gefahr heraufzubeschwören – und dann nicht mal für mich selbst! Als ob Piet nicht schon tief genug in der Patsche sitzen würde.
Unbehelligt spazierte sein Freund unterdessen an der Vordertür der Apotheke vorbei und bog in den schmalen Hof links neben dem Haus ein. Dort gab es eine schmucklose zweite Eingangstür, die für die Lehrjungen und Küchenmägde des Herrn Lohenkamm bestimmt war.
Der Schlüssel würde wie immer auf dem Fenstersims neben der Tür liegen. Sie hatten ausgemacht, dass Piet so leise wie überhaupt möglich bis unters Dach hinaufschleichen sollte. Er durfte keinerlei Licht anzünden, auch nicht in Julians Kammer. Dort sollte er das oberste Buch vom Bord nehmen und sich sofort wieder auf den Rückweg machen. Allenfalls konnte er kurz an Julians Fenster treten, um sich im Mondschein zu vergewissern, dass er auch das richtige Buch erwischt hatte.
Kaum war Piet aus Julians Blickfeld verschwunden, da näherte sich von der Sterngasse her mit lautem Klappern und Rattern eine Kutsche. Die beiden Rösser schnaubten, der Mann auf dem Bock ließ die Peitsche schnalzen. Die Fenster im Kutschkasten waren mit schwarzen Tüchern verhängt – unmöglich zu erkennen, wer sich darin befand. Doch es mussten hochgestellte Persönlichkeiten sein. Den einfachen Bürgern war es streng untersagt, nach Einbruch der Dunkelheit innerhalb der Stadtmauern zu reiten oder zu fahren.
Vielleicht sind es Gäste des Herrn Moorgrafen, dachte der Famulus. Von seinem Versteck aus sah er zu, wie das Gefährt links in die Herrengasse einbog und sich in Richtung südliches Stadttor entfernte. Das Donnern der Hufe auf dem Steinpflaster der engen Gasse war ohrenbetäubend.
Während der Kutschenlärm langsam verebbte, zählte Julian in Gedanken bis fünfzig – bis achtzig – bis hundert. Still und verlassen lag die Herrengasse nun wieder vor ihm im Mondschein. Kein bedrohlicher Schatten, keine Stimmen weit und breit. Er zählte noch zweimal bis hundert. Sollte Piet nicht längst wieder zurück sein?
Ich muss ihm hinterher, dachte Julian, bestimmt steckt Piet in Schwierigkeiten. Mit seiner unbekümmerten Art, seinem frechen Grinsen, seinem betont unschuldigen Blick schaffte es sein Freund allerdings fast immer, sich auch aus bedrohlichen Klemmen wieder zu befreien. Au ßerdem – was sollte ihm im Apothekerhaus schon groß passieren? Selbst wenn Herr von Lohenkamm höchstselbst ihn unter seinem Dach ertappte, würde er ihm allenfalls eine Backpfeife ins Gesicht kleben, weil fremde Lehrjungen bei Nacht in seinem Haus nichts verloren hatten. Aber der Apotheker kannte Piet zumindest vom Sehen und wusste, dass der Bäckerjunge mit seinem Famulus befreundet war. Und sogar vom Großmächtigen Meister konnte doch für Piet im Grunde keine Gefahr ausgehen. Deshalb war Julian ja auf die Idee gekommen, seinen Freund vorzuschicken. Selbst wenn Meister Justus tatsächlich die beiden Schmiede ausgesandt hatte, um ihn zu ergreifen, dann würden sich die doch für Piet gar nicht interessieren. Schließlich kannten die Lichtträger den Raben aus ihrer Loge ganz genau – dass sie Piet mit ihm verwechselten, war kaum anzunehmen.
Und trotzdem kam sein Freund nicht zurück.
Mittlerweile war es beinahe schon Mitternacht. Was mache ich jetzt bloß?, überlegte der Famulus. In den letzten Tagen hatte er sich fast schon daran gewöhnt, dass sein Gewissen ihm andauernd ungebetene Ratschläge erteilte. Er horchte in sich hinein, und seine innere Stimme fing auch gleich wieder an, ihm Kommandos zuzuschreien. Ohne das Buch von Elisha Asmol sind wir am Ende, rief sie. Bestimmt findet sich dort ja ein Hinweis, wie man die Erschaffung
Weitere Kostenlose Bücher