Gößling, Andreas
bringen. Der Golem ist sowieso nicht mehr zu retten und mit den Flammen wird Gunter schon allein fertig. Also bleib du mal hier vorn und schneide dem Kerl den Weg ab, falls er bei dir auftauchen sollte – ich schaue mich hinterm Haus um.«
Mit schlotternden Knien rannte Julian zum Hinterhof zurück. Wo bei allen Heiligen gab es hier einen Fluchtweg nach draußen oder zumindest ein Versteck, um sich vor den beiden Schmieden zu verbergen? In Panik schaute er um sich. Aber da war überhaupt nichts – nur der kahle Hof und die hohen Mauern ringsherum.
Und das Tor zum Hexenholz.
36
Das Tor in der rückwärtigen Mauer des Hegendahl’schen Gutshauses war noch höher, die Eisendornen oben noch länger und spitzer als beim vorderen Eingang. Doch seine Angst, von den Lichtträgern ergriffen und zum Großmächtigen Meister geschleppt zu werden, verlieh Julian Flügel: Ehe Bardo Krummbiehl auch nur um die Haus ecke gebogen war, hatte sich der Famulus über das Ei sengitter geschwungen und auf der anderen Seite todesmutig hinabgestürzt.
Nun kauerte er dort außen am Fuß der Mauer, dicht neben dem Torpfosten. In seinem Rücken hörte er den Goldschmied, der im Hinterhof umherging und leise Drohungen ausstieß. »Warte nur, Kerl, gleich hab ich dich!« Julian wagte kaum zu atmen. Geschweige denn, aufzuspringen und davonzulaufen. Jetzt erst, da alles zu spät war, begann ihm zu dämmern, wo er sich befand.
Vor ihm, zu seiner Linken ebenso wie zur Rechten, er streckte sich das schreckliche Hexenholz. Rauschend und knarrend und wie aus tausend angsterfüllten Herzen seufzend. Am helllichten Tag konnte man sich damals zwar noch im Cropliner Bannwald bewegen, ohne von Trugbildern genarrt zu werden und hoffnungslos in die Irre zu gehen. Dennoch war das Hexenholz seit ältesten Zeiten verrufen.
Während Julian an der Mauer kauerte, jagten ihm Fetzen unzähliger Schauergeschichten durch den Kopf. Sie alle handelten davon, wie unschuldige Menschen jung oder alt, Cropliner oder Ortsfremde, im Hexenholz zu Schaden oder sogar zu Tode gekommen waren. Von Räubern überfallen, die in Hütten und Höhlen tief im Dickicht hausten. Von wilden Leuten massakriert oder sogar bei lebendigem Leib aufgefressen – angeblich war der Bannwald voll mit solchen unheimlichen Kreaturen. Halb Mensch und halb Tier, mit einem Fell wie Affen und darunter dem kalten, grausamen Herzen eines Mörders.
Vor allem aber war der Wald ein Treffpunkt der Hexen. Mitten im Gehölz erhob sich ein kleiner Berg, der seit Menschengedenken den Namen Hexenhügel trug. Auf dem Gipfel standen und lagen die Überreste eines urzeitlichen Bauwerks wild durcheinander. Niemand hätte sagen können, wie diese kolossalen Felsplatten und Gesteinstrümmer dort hingelangt sein mochten. In Croplin hieß die Ruine seit jeher Hexendom oder auch Drachenmaul. Die Teufelsweiber feierten dort im Mondschein ihre höllischen Zeremonien. Wer sich bei Nacht zum Hexenhügel verirrte, um dessen Leib und Leben war es geschehen.
Dem Famulus schlotterten die Knie. Mit aller Kraft biss er die Zähne zusammen, damit ihr Klappern ihn nicht verriet. Am liebsten hätte er sich auch noch die Ohren zugehalten, aber dann hätte er nicht mehr gehört, was hinter der Mauer vorging. Der ganze Wald schien ihm erfüllt vom meckernden Gelächter der Hexen. Andauernd meinte er von da einen Räuber herbeitappen oder von dort eine Horde wilder Leute krachend durchs Unterholz brechen zu hören. Und ob er seine Augen weit aufriss oder vor Angst zukniff, machte überhaupt keinen Unterschied: In dem vermaledeiten Dickicht war es so schwarz wie in einem Grab.
Noch immer scharrte Bardo Krummbiehl hinter ihm im Hof herum. Geh endlich ins Haus zurück, beschworen ihn Julian und Marian im Stillen. Doch stattdessen hörten sie, wie ein zweiter Mann den Hof betrat. »Bardo?«, rief er mit pfeifender Stimme. »Du kannst aufhören, zu suchen. Der Meister weiß, wer der Eindringling war. Der ist wohl vor Kurzem schon mal hier eingestiegen. Und dabei hat er einen Ledergurt oder so etwas zurückgelassen – mit Zeichen darauf, die verraten, wer der Bursche ist.«
Julian blieb fast das Herz stehen. Für einen Moment vergaß er sogar seine Angst vor Räubern, Hexen, wilden Leuten. Mein Haarriemen, gütiger Herrgott, dachte er – hier also hab ich die Unglücksschnur verloren! Auf die Innenseite des Riemchen hatte Jungfer Hildegunde mit roter Tinte in winzigen Buchstaben geschrieben: Von J. H., die J. H. liebt! An seinem 16.
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