Gößling, Andreas
über den See fahren.«
Sie gingen aus dem Haus und Maria verschloss sorgfältig die Tür. Der Vorplatz war eng und düster, da das Grundstück zur Straße hin von der hohen Mauer umgeben war. In einer Ecke standen ein Müllcontainer und mehrere Kübel, von denen ein fauliger Geruch ausging. Zwischen den Mauern war die Hitze kaum zu ertragen und Carmen wäre am liebsten wieder umgekehrt. Aber ihre Mutter zog sie energisch weiter.
Zwei Schritte vor dem Hoftor griff sich Maria an den Kopf und blieb stehen. »Ah, das hätte ich beinahe vergessen«, sagte sie. »Du musst natürlich eigene Schlüssel haben. Und etwas Geld für alle Fälle – man weiß ja nie.«
»Das hat doch Zeit«, wandte Carmen ein.
Aber Maria hatte schon in die Tasche ihres sackartigen Leinen-kleides gegriffen, das sie in München niemals auf der Straße getragen hätte, und einen dicken Schlüsselbund hervorgeholt. »Hier, nimm das an dich.« Sie drückte Carmen die Schlüssel in die Hand.
»Und das hier sind – sechzig, siebzig, neunzig Quetzales. Ungefähr zehn Dollar.«
Carmen nahm auch das kleine Bündel zerfledderter Banknoten entgegen. Sie fühlten sich noch schmieriger an, als sie aussahen, auch wenn das wirklich kaum möglich war. Während Maria das mit drei Schlössern gesicherte Tor entriegelte, steckte Carmen die Quetzales und die Schlüssel in ihre Handtasche.
»Weißt du, was in Deutschland höchstens normaler Wohlstand wäre, gilt hier als märchenhafter Reichtum. Deshalb die hohe Mauer und diese Schlösser. Sei so gut und schließe hinter uns ab. Auch die Fenster hab ich alle mit den Holzläden verrammelt.«
Carmen presste die Lippen aufeinander und atmete durch. Ihre
Mutter verhielt sich wieder ziemlich seltsam, dachte sie. Aber Eltern, die ihren Kindern etwas einprägen wollten, hatten im Allgemeinen die Tendenz, sich sonderbar zu benehmen. Sie holte ihren Bund wieder hervor, suchte umständlich die passenden Schlüssel heraus und verriegelte unter Marias wachsamen Augen das Tor.
4
Unter der senkrechten Mittagssonne flimmerte die Luft wie bei einer Bildstörung im Fernsehen. Keine Wolke am Himmel, kein Schatten weit und breit. Selbst der Belag der schmalen Straße, die mit leichter Steigung zum Zentrum hinaufführte, reflektierte das Sonnenlicht so grell, dass es in den Augen wehtat.
»Müssen wir ausgerechnet in der Mittagshitze raus?«, fragte Carmen. Sie hob die Arme in der Hoffnung auf ein wenig Kühlung, aber hier draußen ging nicht der leiseste Wind. »Sollten wir nicht besser bis zum Abend warten?«
Ihre Mutter gab keine Antwort. Sie schaute kurz nach rechts und links und lief los. Carmen ließ den Kopf hängen und trottete hinter ihr her.
»Unsere Straße heißt Calle Antiguedad, Gasse der Altertümer – ganz passend, oder?« Maria lachte sie von der Seite an. »Unsere Nachbarn sind größtenteils Wissenschaftler, die bei verschiedenen internationalen Projekten mitarbeiten – Wasserbau, Schutz des Regenwaldes, Maya-Ausgrabungen. Mit der Zeit wirst du sie schon noch kennen lernen.«
Carmen vergrub ihre Hände in den Jeanstaschen. Noch mehr Leute von Marias und Georgs Schlag? Na, vielen Dank, dachte sie.
Die Häuser in der Calle Antiguedad wirkten allesamt abweisend.
Graue Steinmauern, keine Vorgärten. Fenster und Türen vergittert, wenn nicht gleich, wie bei ihrem Haus, das ganze Grundstück von einer hohen Mauer umgeben war. Über etlichen Eingängen waren Überwachungskameras angebracht. Vor einem Tor standen zwei Wachleute in Uniformen, Maschinenpistolen in der Hand.
»Das sieht alles schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist«, behauptete Maria und winkte in Richtung der Bewaffneten ab. »Man muss eben ein bisschen aufpassen, das ist alles.«
»Aufpassen?«, wiederholte Carmen.
»Na ja – nicht mit dem Geldbeutel vor fremden Augen herumfuchteln. Niemals größere Geldbeträge mitnehmen und schon gar keinen Schmuck. Zu Hause immer alles sorgfältig verschließen, wie du es eben gemacht hast.« Sie nickte Carmen aufmunternd zu. »Und wenn doch mal was schief geht – auf keinen Fall den Helden spielen.«
Carmen musste schlucken. Stumm ging sie neben ihrer Mutter durch das dampfend heiße Sträßchen, in dem außer ihnen niemand unterwegs war. Nur ein paar knochige Straßenköter, die sich winselnd um einen Taubenkadaver balgten. Wieder sah Maria auf ihre Armbanduhr, dann beschleunigte sie ihre Schritte. Sie überquerten eine breitere Straße, genannt Avenida La Reforma, und gelangten zu einem
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