Gößling, Andreas
der blöden Carmen zusammen zu sein!« Und sie begann hemmungslos zu weinen und schrie immer wieder: »Verschwinde, lass mich in Ruhe!«, bis Georg endlich die Schultern bis zu den Ohren hochzog und wie ein geprügelter Hund im Haus verschwand.
Ich hasse mich, weil ich mich wie ein kleines Kind benehme und fühle. So ängstlich, launisch, unselbstständig. Selbstbewusstsein null.
Und ich hasse Georg und Maria, weil sie so egoistisch sind. Mein Münchner Leben kaputtgemacht haben. Meine Freunde, meine Klasse, alles für immer weg. Und ich hasse dich, verdammtes Tagebuch, weil ich sonst keinen hob, den ich voll jammern kann.
Maria und Georg sitzen jetzt wahrscheinlich draußen auf der Veranda und sind zerknirscht. Oder wohl eher genervt, weil die dumme, kleine Carmen nicht so spurt, wie sie sich das vorgestellt haben.
Gleich wird Papa von seinem Fahrer abgeholt. Vor einer Stunde oder so ist Mama von ihrem Cingalez gebracht worden. Fliegender Wechsel der Babysitter.
Mir alles egal. Hab meine Tür verriegelt. Will keinen sehen.
Mich selbst am wenigsten. Adiós, Carmen
»Ich weiß doch, wie du dich fühlst, cariña. Abschiede sind immer schwer. Aber was ist das Leben anderes als eine Kette von Abschieden?«
Peng – da hatte Maria ihr wieder eine ihrer Lebensweisheiten hingeknallt. Carmen zog die Augenbrauen hoch und sah starr geradeaus. Wieder saß sie auf der Veranda, wieder war es Vormittag, wieder gab es Pfannkuchen mit Honig und Obst. Gleiche Szene, gleiche Schwüle, anderes Elternteil.
Maria schaute sie von der Seite an und grinste. »Ich weiß, ich weiß. Solche Sprüche helfen dir wenig. Glaubst du jedenfalls. Aber wir müssen die Dinge nehmen, wie sie nun einmal sind. Gestern München – heute Flores. Na und?« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Hier ist es jedenfalls niemals kalt, und wenn du willst, kannst du dreimal am Tag im See schwimmen gehen.« Maria beugte sich zu ihr herüber und legte Carmen eine Hand auf die Schulter. »Und wenn du nicht willst, kannst du dich auch von morgens bis abends in deinem Zimmer vergraben. Jedenfalls bis zum 1. September, denn dann fängt die Schule wieder an. Und ich an deiner Stelle würde die Zeit bis dahin nutzen, um meine neue Umgebung kennen zu lernen.« Sie packte Carmen beim Nacken und schüttelte sie ein wenig. »Was hältst du davon, wenn wir gleich damit anfangen?«
Carmen hielt sehr wenig davon, aber noch mehr graute ihr davor, sich wieder in ihrem Zimmer zu verkriechen. Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch – sonst gar nichts. Es war die reinste Gefängniszelle, wenn auch mit einem sehr offenen Fenster. Außerdem hatte Marias Munterkeit einen gewissen Unterton, den Carmen seit langem kannte.
Sich mit ihrer Mutter anzulegen war selten eine gute Idee. Maria blieb immer die Ruhe selbst, wenn sie angegriffen wurde. Doch unter ihrer Gelassenheit brodelte eine Wildheit, die sie einen aus der Ferne spüren ließ. Carmen hatte schon öfter beobachtet, dass auch Erwachsene – Kollegen von Maria oder ihr Vater – sich durch diese Strategie beeindrucken ließen, sodass ihre Mutter meistens die Ober-hand behielt.
So war es also beschlossene Sache, dass sie zu zweit in die Stadt gehen würden. »Georg wollte dir ja ein Handy kaufen, das erledigen wir dann auch gleich«, entschied ihre Mutter. »Außerdem kannst du dir deine Schule anschauen – jedenfalls von außen.«
»Schule muss jetzt wirklich nicht sein.« Carmen fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und band sie im Nacken zusammen. So war die Hitze wenigstens etwas leichter zu ertragen. »Aber ich will in ein Internet-Café.«
»Davon gibt es in Flores mindestens fünf«, verkündete Maria strahlend. »Du wirst dich überhaupt wundern, wie viel das Städtchen zu bieten hat. Es gibt jede Menge hübscher Restaurants und Cafés am See und ständig kommen junge Leute aus Europa und den USA, um von hier aus die großen Maya-Stätten in der Nähe zu besuchen – Tikal oder auch Caracol im Nachbarstaat Belize.«
»Ist schon gut, Maria«, sagte Carmen. »Du brauchst dich nicht so anzustrengen. Flores ist die tollste Stadt der Welt und ich bin zum Schreien glücklich, weil ich hier leben darf.«
Maria hakte sich bei ihr unter und grinste wie ein Krokodil. »Wer wird denn gleich übertreiben. Aber jetzt lass uns endlich gehen.« Sie schaute auf ihre Armbanduhr, als ob sie auch in ihrer Freizeit einen exakten Zeitplan beachten müsste. »Und wenn du willst, lassen wir uns nachher mit einem Boot
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