Gößling, Andreas
wenig erhöht über dem Westufer der Insel. Ein leichter Wind wehte vom See her und machte die Schwüle erträglich. Boote mit Sonnensegeln und schlanke Motorschiffe zogen über die weite, schimmernd blaue Fläche. In großer Ferne waren die Umrisse von Hügeln zu erahnen, steil und spitz wie Pyramiden. Kleine Dörfer lagen dort am Ufer, weit verstreut und wie mit dem Pinsel hingetupft.
Es war wunderschön hier und für den Moment wünschte sich Carmen nichts anderes, als in ihrer Hängematte zu liegen und zu spüren, dass Georg neben ihr auf der Bank saß.
Irgendwann musste sie wieder eingeschlafen sein. Sie träumte von Paolo Cingalez und es war kein angenehmer Traum. Er trug einen hellen Anzug, genau wie der Mann, der gestern nach ihrer Mutter aus jener Tür gekommen war. Diesmal aber rannte er hinter Maria her, durch einen grauenvollen Wald, der von unheimlichen Geräuschen erfüllt war. Ein Knacken wie von Schritten auf dürren Zweigen. Dazu Fauchen wie von einer großen Raubkatze. Maria rannte durch diesen Wald und Cingalez stolperte hinter ihr her.
»Frau Dr. Lambert!«, rief er immer wieder. »Ich bitte Sie – wenden Sie sich vertrauensvoll an mich!«
Als Carmen erwachte, stand Georg über sie gebeugt und fuhr ihr mit seiner großen, kühlen Hand über die Stirn. »Du hast geträumt«, sagte er leise.
Sie wandte den Blick von ihm ab und gab keine Antwort. Ihr Herz raste. Ihr T-Shirt war feucht von ihrem Schweiß. In ihrem Kopf erklangen immer noch das Trappeln der rennenden Schritte und der unsinnige Ausruf von Señor Cingalez: »Wenden Sie sich vertrauensvoll an mich!« Genau diese Worte, dachte Carmen, hat er gestern zu mir gesagt.
»Noch etwas, Liebes.« Georg setzte sich wieder neben sie auf die verwitterte Holzbank. Carmen drehte den Kopf vom See weg und schaute durch die Maschen der Hängematte zu ihm hinab. Diesmal war er es, der ihrem Blick auswich. »Ich hatte ja gehofft, noch ein paar Tage hier bleiben zu können, bevor ich auf die Baustelle hinaus muss. Die ist hundertfünfzig Kilometer von hier und während der Woche muss ich künftig sowieso dort draußen im Dschungel bleiben.«
Er räusperte sich und begann in seinen Taschen zu kramen. Carmen starrte ihn an und wartete. Von alledem hatte sie nicht das Geringste gewusst. Nicht dass er nur an den Wochenenden nach Hause kommen würde, und genauso wenig, dass seine Arbeit so bald schon anfangen sollte – nicht erst in vier Wochen, wie er es in Deutschland versprochen hatte.
Konzentriert betrachtete er sein Zigarillopäckchen, das er endlich in seiner Hemdtasche gefunden hatte. »Also kurz und gut«, sagte er,
»es gibt auf der Baustelle schwer wiegende Probleme. Ich muss schon heute Nachmittag dorthin – ein Fahrer kommt um drei Uhr und holt mich ab.«
In der Palmenkrone über Carmen landete ein großer Papagei mit rotem und blauem Gefieder. Er ruckte mit dem Schnabel und stieß einen grämlichen Krächzton aus. »Seit wann weißt du das, Papa?«, fragte sie leise. »Etwa schon seit München? Ich meine – du hast doch hier auch kein Handy, auf dem sie dich anrufen könnten, oder?«
»Wie? Doch, doch«, murmelte Georg und sah wieder so geistesabwesend aus wie meistens. »Schau, Liebes, hiermit kannst du auf der ganzen Welt telefonieren.« Er kramte abermals herum und zog ein winziges Gerät aus seiner Hosentasche. »Ach ja«, sagte er,
»wenn du willst, schick deiner Freundin eine SMS oder ruf sie meinetwegen auch an. Aber bitte nur ganz kurz – Auslandsgespräche mit dem Mobiltelefon sind hierzulande mörderisch teuer.«
Lächelnd hielt er ihr sein Telefon hin, aber Carmen warf sich in ihrer Hängematte herum und drehte ihm den Rücken zu. Lügner, Verräter, Feigling, dachte sie. Lieber hack ich mir die Hand ab.
»Es ist ja nur für diese Woche«, sagte Georg in beschwörendem Ton. »Am Samstag bin ich garantiert wieder da und dann bleiben uns drei ganze Wochen, bis meine reguläre Arbeit und deine Schule anfangen.« Carmen gab ihm keine Antwort. Georg steckte sich einen Zigarillo an und pustete den Rauch zu ihr herüber. »Na komm schon, du bist doch kein kleines Kind mehr. Und Maria ist ja sowieso die ganze Woche hier bei dir.«
Da hielt Carmen es nicht länger aus. Sie schnellte in der Hängematte herum, so wild, dass sie beinahe rausgeschleudert worden wäre. »Wenn sie ihre Zeit nicht lieber mit diesem Cingalez verbringt!«, schrie sie ihren Vater an. »So wie du lieber auf deiner Baustelle bist – alles besser, als mit
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