Gößling, Andreas
hin«, sagte Maria und sah nervös um sich. »Du, ich hatte eben einen komischen Anruf. Ein gewisser Señor Gómez.
Er sagt, Cingalez hätte ihm meine Nummer gegeben. Er will mich sprechen – ganz dringend, behauptet er.« Sie schüttelte den Kopf und verstummte, da eben der Kellner kam und ihre Saftgläser brachte.
Carmen setzte sich neben ihre Mutter auf die Bank und sah hinaus auf den See. Ich drehe noch durch, dachte sie. Es war wie ein Spiel, das mehr und mehr außer Kontrolle geriet. Mittlerweile konnte sie gar nicht mehr anders – in allem und jedem, was Maria und Georg sagten oder machten, witterte sie nur noch Lüge, Manipulation und Verrat.
»Und wirst du dich mit ihm treffen?«, fragte sie und schaffte es nicht, ihre Mutter anzusehen.
»Na ja, cariña, es könnte wichtig sein – für meine Arbeit, weißt du.«
Carmens Mund war plötzlich so trocken, als hätte sie Staub geschluckt. Sie zog eines der beiden Gläser, die bis zum Rand mit einer schäumenden orangeroten Flüssigkeit gefüllt waren, zu sich heran und trank einen großen Schluck. »Und als wir von… von unserem Haus losgegangen sind, da wusstest du noch nichts von diesem Señor Gómez?«
Maria zuckte mit den Schultern. »Es gab ein paar vage Andeutungen, aber nichts Konkretes. Dass er sich ausgerechnet jetzt melden würde, wusste ich wirklich nicht. Das kannst du mir ruhig glauben, Carmen«, fügte sie in leicht gereiztem Tonfall hinzu.
Gar nichts glaub ich, dachte Carmen und ließ noch mehr Fruchtsaft in ihre Kehle rinnen. Wie durch einen Schleier sah sie, dass ihre Mutter den Kellner herbeiwinkte, ihm ein paar Scheine in die Hand drückte und sich aus ihrer Bank schob.
»Bleib einfach sitzen«, sagte sie, »ich treffe mich mit diesem Señor Gómez gleich hier um die Ecke. In ein paar Minuten bin ich wieder da. Trink ruhig in der Zwischenzeit meinen Saft aus – ich hab sowieso keinen Durst.«
Ihre Mutter lächelte ihr zu und Carmen wandte den Kopf ab und sah hinaus auf den See. Ruhig, ganz ruhig, sagte sie zu sich selbst.
Wenn Maria wirklich in ein paar Minuten wieder hier ist, hast du keinen Grund, schon wieder eine Szene zu machen. Und wenn nicht… Abwarten.
Außer ihr saß niemand auf der Terrasse, die an vier großen Tischen mindestens zwanzig Leuten Platz bot. Von der Seemitte tuckerte ein kleines Motorboot auf ihre Uferseite zu, darin saß ein einzelner Mann mit einem riesigen Sombrero. Ein paar Enten paddelten im Schilf herum. Irgendwo in der Nähe heulte ein Kleinkind und eine Frau versuchte vergeblich, es durch schrille Gesänge zu beruhigen. Flores war das verschlafenste Nest auf dem ganzen Planeten, dachte Carmen. Von den vielen jungen Touristen aus USA und Europa, die laut Maria ständig hierher kamen, um die Sehenswürdigkeiten zu bewundern, hatte sie bisher noch keine Spur gesehen.
Genauso wenig wie von den Internet-Cafés, die es hier so massenhaft geben sollte.
Mit den Augen folgte Carmen dem Motorboot, aber in Gedanken war sie bei Maria. Wie lange war ihre Mutter jetzt schon weg? Drei Minuten, fünf oder mehr? Plötzlich hielt Carmen es nicht mehr aus, untätig zu warten. Sie sprang auf, trank im Stehen noch einen großen Schluck aus Marias Glas, raffte im letzten Moment ihre Handtasche von der Bank und lief durch den düsteren Barraum zurück auf die Straße.
Vor der Tür blieb sie stehen, bis ihre Augen sich wieder an das grelle Licht gewöhnt hatten. Auch die Schwüle war hier in der Straße viel drückender als am Seeufer, wo ständig ein leichter Wind wehte.
Sie spähte nach links und rechts und ärgerte sich, dass sie sich vorhin nicht wenigstens umgedreht hatte, um zu sehen, in welche Richtung Maria gegangen war.
Schließlich wandte sie sich aufs Geratewohl nach links.
Gleich neben der Bodega führte ein schmaler Weg zurück zum See. Eigentlich war es nur ein Mauerspalt zwischen zwei Häusern, dunkel und mit Unrat übersät. »Gleich um die Ecke«, hatte Maria gesagt. Aber diesen Pfad konnte sie doch nicht gemeint haben? Auf einmal hörte sie Stimmen vom See her – eine leise männliche Stimme, auf die eine Frau laut und energisch antwortete. Maria!
Ohne auch nur einen Moment nachzudenken, lief Carmen den schmalen Weg entlang. Mit ihren Sandalen stieß sie gegen ein weiches Bündel, das mit einem Fiepen aufsprang und in einem Mauerloch verschwand. Carmen hielt die Luft an und rannte weiter, die Handtasche unter ihren Arm gepresst. Dort vorn, am Ende des Pfades, machte eben das Motorboot am Ufer
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