Gößling, Andreas
Carmen am Ellbogen und dirigierte sie das holprige Sträßchen hinunter. Angenehm still und schattig war es hier. Die Häuser wirkten viel freundlicher als oben in ihrer Straße. Schmale, helle Fassaden, die Fensterrahmen gelb oder hellblau lackiert. Unten gab es kleine Lebensmittelläden, Bodegas und Bäckereien. In den Etagen darüber standen Blumenkästen oder Vogelkäfige in geöffneten Fenstern. Auf Bänken und Bürgersteigen vor den Türen hockten Jung und Alt beisammen, um in sonntäglicher Ruhe zu plaudern. Das Straßenpflaster war allerdings so löchrig, dass man bei jedem Schritt auf den Boden achten musste.
»Oh, verdammt.« Maria war vor einem winzigen Laden stehen geblieben. Mobiltelefone aller Marken und Preisklassen in einem schmalen Fenster, dessen Rahmen ebenso wie die Ladentür türkis-blau gestrichen war. Hinter dem Türglas hing ein Schild mit der Aufschrift »Cerrado«. »Geschlossen«, erläuterte Maria überflüssigerweise. »Tut mir Leid, Carmen, da müssen wir wohl morgen noch mal herkommen.«
Carmen presste die Lippen zusammen. Natürlich konnte ihre Mutter nichts dafür, dass der Laden nicht geöffnet hatte. Und vielleicht war ihr ja auch wirklich eben erst eingefallen, dass er an Sonntagnachmittagen geschlossen war. Aber Carmen mochte es nicht glauben. Nicht nach alledem, was in letzter Zeit passiert war. Außerdem wusste ihre Mutter über solche Dinge sonst immer ganz genau Bescheid. Bestimmt hatte Maria den Telefonladen einfach als Köder benutzt, um sie aus dem Haus zu locken.
»Gehen wir einen schönen kalten Fruchtsaft trinken?« Maria lächelte sie tröstend an.
Einen Moment lang starrte Carmen noch mit zusammengebissenen Zähnen ins Leere, dann zuckte sie mit den Schultern. »Meinetwegen.« Ein winziger Hund mit schwarzem Fell kam aus einem Haustor neben ihnen hervor und stürzte mit wehenden Ohren auf sie zu. Carmen ging in die Knie und lockte ihn zu sich her. Aber das Hündchen schnüffelte nur an ihrer Hand und lief gleich weiter, zum Markt hinauf.
»Noch eine Regel«, sagte Maria. »Vorsicht vor Keimen und Bakterien aller Art.« Sie deutete auf eine Bar ein Stück weiter die Straße hinunter. »Gehen wir dort hinein, da ist es schattig und wir haben einen schönen Blick auf den See.« Sie hängte sich bei Carmen ein und Carmen stellte fest, dass sie fast schon eine Handbreit größer als ihre Mutter war. »Solange dein Organismus nicht an die hiesigen Verhältnisse angepasst ist«, fuhr Maria fort, »kannst du praktisch durch alles krank werden – ungekochtes Wasser, ungeschältes Obst, Körperkontakt mit Menschen oder Tieren.«
»Danke, Maria – ich bin schon durch all das hier krank.«
Ihre Mutter sah sie von der Seite her an – erst erschrocken, dann mit gerunzelter Stirn. »Hier bekommen wir den besten Orangensaft der Stadt«, sagte sie mit gespielter Munterkeit und sah schon wieder auf die Armbanduhr.
Arm in Arm betraten sie die Bodega. Ein düsterer Raum mit einem Strohdach, durch das hier und dort die Sonne blitzte. Am anderen Ende schloss sich eine hölzerne Veranda an und dahinter glitzerte die riesige dunkelblaue Fläche des Sees.
»Setzen wir uns nach draußen«, entschied Maria. »Aber geh dir vorher die Hände waschen, cariña – du weißt doch, wegen dem Hund.« Sie deutete auf eine Tür mit der Aufschrift »Mujeres«.
Während Carmen folgsam in die Frauentoilette ging, hatte sie den unheimlichen Eindruck, tatsächlich wieder ein kleines Kind zu sein. Maria befahl – und sie gehorchte. Ihre Mutter kannte sich mit allem aus und sie selbst wusste gar nichts. Mach dies und lass das.
Wer dies isst, dem passiert das. Feuer ist heiß und Wasser macht nass. Sie trat vor das Waschbecken und wusch sich sorgfältig die Hände. Dann verließ sie die Toilette, ohne ihrem Spiegelbild einen Blick zu gönnen.
Als Carmen auf die Seeterrasse trat, schaltete Maria gerade ihr Telefon ab. Sie warf Carmen einen gehetzten Blick zu und steckte es in ihre Handtasche zurück. Also funktionierte auch ihr Handy hier so gut wie in Deutschland? Wahrscheinlich konnte man damit ebenfalls auf der ganzen Welt telefonieren, wie mit Georgs Apparat. Und die beiden hatten einfach keinen Gedanken daran verschwendet, dass das kleine, dumme Handy der dummen, kleinen Carmen in Flores leider nicht zu gebrauchen war. Carmen ballte die Fäuste. Am liebsten hätte sie wieder losgeschrien, wie gestern Vormittag in der Hängematte, als sie ihren Vater angebrüllt hatte.
»Setz dich doch
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