Gößling, Andreas
»Lass dir nur Zeit, Liebes. Wenn du so weit bist, komm auf die Veranda zum Frühstück. Es gibt Pfannkuchen mit Ananas, Melonen und Papaya.«
Carmen sprang aus dem Bett, stolperte ins Bad gegenüber und saß fünf Minuten später bei ihrem Vater auf der Veranda. Heute war Sonntag, fiel ihr ein und wie zur Bestätigung tönten von Flores die Kirchenglocken herauf. »Wo ist Maria?«, fragte sie und musste gleich wieder an die merkwürdige Szene gestern am Flughafen denken.
»Stell dir nur vor, deine Mutter arbeitet schon.« Georg schüttelte den Kopf und lächelte sie an. »Cingalez hat sie gegen zehn abgeholt – vor einer Stunde. Er ist der Assistent deiner Mutter, du wirst ihn künftig also noch öfter sehen. Sie sind in ihr Büro gefahren, oben am Marktplatz. Aber jetzt iss erst mal.«
Das ließ sich Carmen nicht zweimal sagen. Während ihrer ganzen langen Reise hatte sie nur ein paar Bissen von den schrecklichen Plastikmenüs gegessen, die man im Flugzeug aufgetischt bekam.
Jetzt sah sie voller Vorfreude zu, wie Georg drei große Pfannkuchen auf einen Teller stapelte, den er vor ihr auf den hölzernen Verandatisch stellte. Cingalez, dachte sie – das war dieser Mann, der sie gestern Abend hier am Haus erwartet hatte. Sie hatte jetzt nicht die geringste Lust, an ihn zu denken.
Das Haus war größer, als sie von den Fotos her erwartet hatte. Es bestand aus fünf Zimmern, die in L-Form ebenerdig angeordnet waren. Vor dem längeren Balken des L zog sich an der Rückfront die hölzerne Veranda entlang. Hinter einem wackligen Geländer begann der Garten, der ziemlich groß war und angenehm schattig schien.
Orangen-und Zitronenbäume gab es hier und am Rand der kleinen Wiese wuchsen rote, weiße und sogar schwarze Orchideen. Schmetterlinge gaukelten im Gras umher, groß wie Kolibris und leuchtend bunt gefleckt.
Aus einer Karaffe goss sich Carmen reichlich Honig auf ihre Pfannkuchen, zog die Platte mit Obststücken näher heran und machte sich über ihr Frühstück her. Georg reichte ihr ein riesiges Glas mit Orangensaft und eine ebenso große Tasse mit Milchkaffee. So viel Fürsorglichkeit war ihr seit Jahren nicht widerfahren. In ihrer Familie lebte jeder sein eigenes Leben. Sie erzählten sich zwar immer, was sie erlebt hatten und was sie gerade beschäftigte, aber es kam nicht gerade häufig vor, dass sie alle drei dasselbe erlebten. Und bestimmt hatte Georg jetzt auch ein schlechtes Gewissen, weil er und Maria sie so brutal aus ihrem Münchner Leben herausgerissen hatten. Aber woran auch immer es liegen mochte – Carmen genoss es sehr, dass Georg sich heute so aufmerksam um sie kümmerte. Meistens war ihr Vater in Eile und fast immer schien er in Gedanken bei seinen Deichbauten und Kraftwerken zu sein.
Nachdem sie alle drei Pfannkuchen verdrückt hatte, legte sich Carmen in die Hängematte zwischen den Kokospalmen und Georg setzte sich neben ihr auf eine verwitterte Bank. Carmen erzählte ihm, dass sie vergeblich versucht hatte Lena eine SMS zu schicken. »Das Handy funktioniert nicht«, sagte sie. »Hast du eine Ahnung, woran das liegt?«
»Das ist kein großes Problem«, antwortete ihr Vater. »Beim Parque Central gibt es einen Telefonladen. Wir besorgen dir ein Handy, das dem hiesigen Standard entspricht – gleich heute Nachmittag, wenn du willst.«
»Oder morgen«, sagte Carmen und gähnte. Nach ihrer endlos langen Reise hatte sie überhaupt keine Lust, sich von der Stelle zu bewegen. Geschweige denn in die Stadt zu laufen, wo die Hitze bestimmt kaum zu ertragen war.
»Oder morgen«, stimmte ihr Vater nach kurzem Zögern zu. »In ein paar Wochen bekommen wir hoffentlich auch einen Festnetzanschluss hier im Haus. Weißt du, das geht hierzulande alles nicht so schnell wie in Europa. Aber irgendwann und irgendwie geht es dann doch.«
Wenn man es mit seinen Augen sah, schien alles ganz leicht und nur eine Frage des guten Willens zu sein. Aber sosehr Carmen sich um eine optimistische Sichtweise bemühte – sie konnte sich immer noch nicht vorstellen, wie sie hier leben sollte. Weit weg von ihren Freunden, in einer völlig fremden Welt.
»Und außerdem«, fuhr Georg fort, »gibt es in der Stadt jede Menge öffentliche Telefone. Übrigens auch mehrere Internet-Cafés, falls du deinen Freunden eine E-Mail schicken willst.«
Carmen begnügte sich mit einem unbestimmten Brummen. Von ihrer Hängematte aus hatte sie freien Blick über den Lago de Petén.
Ihr Haus lag am äußersten Rand von Flores, ein
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