Gößling, Andreas
er meinen Vater mindestens so sehr wie ich.«
Yeeb-ek näherte sich dem Sombrero, der vor Carmen im Gras lag, und schnüffelte winselnd an der bunten Krempe. Pedro ging neben ihm in die Knie, klopfte ihm das Fell und murmelte ihm tröstlich klingende Töne zu. Dann nahm er den Hut, setzte ihn auf Yeeb-eks Rücken und knotete ihn mit der Hutschnur unter dem Bauch des Hundes fest.
Ohne ein weiteres Wort liefen sie hinter Yeeb-ek zum Ufer hinunter und setzten sich alle vier in das kleine Boot. Als Letzter zwängte sich der Großvater auf die Ruderbank und ließ den Motor an.
Gemächlich tuckerte das Boot über den See. Scheinbar kamen sie kaum von der Stelle, doch als Carmen einmal nach hinten sah, waren ihr Garten, das Haus, die ganze Insel mit dem Städtchen Flores nur noch ein winziger flimmernder Punkt im riesigen Spiegel des Sees.
Um sie herum gab es nur noch Wasser und weit vor ihnen den Regenwald, halb hinter Nebelschwaden verborgen.
8
Der Weg führte vom Bootssteg steil aufwärts und war mit Unrat übersät. Coladosen, Zigarettenschachteln, abgenagte Hühnerknochen. Klobige Steinbrocken ragten kreuz und quer aus der Erde, sodass man auf jeden Schritt achten musste, um nicht zu stolpern. An den Wegrändern standen Hütten, so schief und gebrechlich, als ob sie im nächsten Moment zusammensacken würden. Rostiges Wellblech, verrottete Bretter. In den Fensterhöhlen flatterten Plastikfetzen. Radiomusik schepperte aus Türlöchern, vermengt mit Gesängen, Flüchen, überwältigenden Kochgerüchen. Bohnensuppe, Kokosmilch, gegrilltes Hühnchenfleisch – Carmen lief das Wasser im Mund zusammen. Wann hatte sie zum letzten Mal etwas gegessen?
Im Moment konnte sie sich überhaupt nicht erinnern, wann und wo das gewesen sein sollte.
Zwischen Pedro und dem Alten, der unablässig auf Yeeb-ek einredete, taumelte sie voran und wagte kaum nach links und rechts zu sehen. Marias kleiner Rucksack drückte auf ihre Schulter wie ein Stein. Nach der langen Bootsfahrt fühlte sie sich müde und nicht ganz sicher auf den Beinen. Was essen und trinken, dann erst mal schlafen, dachte Carmen. Aber wo sollten sie eine Unterkunft finden in diesem grässlichen Ort?
Die Hütten wechselten sich ab mit chaotischen Gärten, in denen Mais, Bohnen, bunte Blumen und Orangenbäume wild durcheinander wucherten. Überall lag Dreck herum, in unvorstellbaren Mengen.
Zeitungsfetzen, leere Schnapsflaschen und immer wieder Coladosen.
Aus Löchern im Weg sprossen Gräser und Blumen. Dazwischen liefen magere Hühner und Hunde, nackte Kinder und sogar kleine schwarze Schweine herum.
Vor den Hütten saßen Männer und Frauen auf Bänken, Steinen oder am Boden. Klein gewachsene Leute, die Männer schmal wie halbwüchsige Jungs, die Frauen stämmig wie Fässchen. Reglos sahen sie ihnen entgegen oder eher durch sie hindurch. Ihre Gesichter waren starr wie Masken, die Augen hatten einen seltsamen Glanz.
Alle trugen zerschlissene Kleidung in westlichem Stil. Verwaschene, tausendmal geflickte Röcke und Blusen. Zerlumpte Jeans und T-Shirts, zerlöcherte Turnschuhe. Carmen fragte sich, ob sie betrunken waren oder von irgendwelchem Zeug berauscht, das sie hier vielleicht anbauten – Giftpilze, Haschisch, was wusste sie denn? Yeeb-ek trottete vor ihnen her, an Steinen und herumliegenden Knochen schnüffelnd. Mit dem Sombrero von Pedros Vater sah der Hund lächerlich, aber mehr noch unheimlich aus. Wie ein verwunschenes Wesen mit einem zottigen Kopf und vier Beinen, das seinen riesigen Hut auf dem Buckel trug.
Carmen hob den Kopf, um zu sehen, wie lang der Weg noch so steil bergan führte. »Wann sind wir denn endlich da?«, fragte sie.
Von oben schoss plötzlich ein Sturzbach schlammbraunes Wasser auf sie zu. »Herrje, was ist das denn?«
Pedro packte ihren Arm und zog sie an den Wegrand. Gurgelnd ergoss sich das Schlammwasser zwischen Steinbrocken und riesigen Schlaglöchern. Auf der Brühe schwammen Müll und Essensreste.
Schreiend sprangen drei winzige, nackte Kinder direkt neben Yeeb-ek in diese Jauche hinein. Der Hund machte einen Satz zur Seite und der alte Mann stieß wieder sein meckerndes Lachen aus. Pedros Großvater. Carmen hoffte sehr, dass er und der Köter hier im Dorf zurückbleiben würden. Die beiden waren ihr unheimlich, der Alte mehr noch als sein sonderbarer Hund.
»Abwasser«, sagte Pedro kurz angebunden und zog sie weiter den Berg hoch. Von der braunen Brühe ging ein ekelhafter Gestank aus. Unmengen von Fliegen summten
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