Gößling, Andreas
für ihre Ohren gerade noch zu hören war.
Pedro machte große Augen und schwenkte das Röhrchen vor ihr durch die Luft. »Man kann es praktisch für alles verwenden – als Messer, Dietrich, Blasrohr, Pfeife, was man gerade braucht.« Ein Lächeln flog über sein Gesicht. »Eine alte Zauberwaffe, vor unserem Aussterben war sie im ganzen Land verbreitet.«
Carmen sah von dem Röhrchen zu Pedro und wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie fühlte sich ganz durcheinander – nicht wegen dem komischen Zauberrohr und noch weniger wegen seinem immergleichen Scherz mit dem ausgestorbenen Volk. Aber dieses Lächeln machte ihr weiche Knie. »Gehen wir«, sagte sie endlich und zog hinter sich die Verandatür zu.
Pedro bedachte ihren Rucksack mit einem Blick, aber glücklicherweise fragte er nicht, ob sie die Maske auch wirklich mitgenommen hatte. Zumindest in diesem einen Punkt war Carmen ganz sicher: Sie durfte die Maske nicht aus ihrem Versteck holen. Unterwegs könnte sonst jeder sie ihr abnehmen, und wenn die Maske in falsche Hände fiele, hätte Maria überhaupt keine Chance mehr. Diebe und Räuber konnten sie ihr wegnehmen, Cingalez konnte seine Leute hinter ihr herschicken, und wusste sie denn, ob sie Pedro wirklich trauen durfte? Nein, die Maske musste erst einmal bleiben, wo sie war.
Nebeneinander gingen sie über die Wiese hinunter zum See. Pedro hatte ihr erklärt, dass er mit dem Boot gekommen war – demselben Boot, in dem heute Mittag sein Vater zu dem missglückten Treffen mit Maria gefahren war. Die Sonne brannte vom Himmel und der See leuchtete wie ein riesiger Spiegel. Von der Stadt her hörten sie die Glocken schlagen. Zwei laute Schläge, auf die zwei dünnere folgten – halb drei. In dreieinhalb Stunden würde es von einem Moment zum anderen dunkel werden.
Wo werd ich dann sein?, dachte Carmen. Draußen im Dschungel mit Pedro? Und sie beide sollten allein gegen ein ganzes Maya-Reich zu Felde ziehen? Das war doch einfach Wahnsinn! Vielleicht hatte Pedro sie ja auch von vorn bis hinten angelogen. Vielleicht war er in Wahrheit gekommen, um auch sie noch zu entführen, und hatte ihr diese ganze haarsträubende Geschichte nur erzählt, damit sie freiwillig mitkam! Aber was ist mit dem verrückten Königsgrab in Marias Zimmer?, dachte sie dann wieder.
Sie war so sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie kaum mitbekam, wie Pedro wieder das Röhrchen hervorzog und einen hellen Ton ausstieß. Fast im selben Moment kam ein riesiger schwarzer Hund aus einem Gebüsch zu ihrer Linken und stürzte mit einem dröhnenden Bellen auf sie zu. Carmen fuhr schrecklich zusammen. Ach du lieber Gott!, dachte sie. Zum Glück stürzte sich der Hund nicht auf sie, sondern auf Pedro, der sich bereitwillig umwerfen ließ und lachend mit dem Hund im Gras rangelte. Der Sombrero fiel ihm vom Kopf und plötzlich ließ der Hund von ihm ab und wandte sich wieder dem Gebüsch zu.
Dort kam eben ein uralter Mann zwischen den Zweigen hervor, von dem Hund mit einem freudigen Bellen begrüßt. Der Mann hatte ein völlig verrunzeltes Gesicht und die grauen Haare hingen ihm wie Bindfäden bis auf die Schultern. Immer noch trug er dieses unförmige weiße Hemd, das ihm bis zu den Knien reichte wie ein altmodisches Nachthemd, und in der Hand seinen gewaltigen Stock. Natürlich, dachte Carmen, es sind der Alte und sein Hund von heute Mittag am See. Offensichtlich gehörten sie und Pedro zusammen. Aber was hatten sie dort hinter den Büschen zu suchen gehabt? Irgendwo dort hinten hatte sie die Maske vergraben. Beunruhigt spähte Carmen nach dem Bündel, das der Alte auf dem Rücken trug, ein rot und blau gemusterter Stofffetzen, der alles und gar nichts enthalten konnte. Als er ihren Blick bemerkte, stieß der alte Mann wieder dieses meckernde Lachen aus. Er ist unheimlich, dachte Carmen. Und wenn er seinen Hund auf mich hetzt, ist sowieso alles vorbei.
»Mein Großvater«, sagte Pedro zu ihr und überschüttete dann den Alten mit einem ganzen Schwall unverständlicher Worte. »Er bringt uns auf die andere Seeseite«, erklärte er endlich und hob den Sombrero auf. »Hier, zieh du ihn mal an.« Er setzte Carmen den Hut auf.
Sofort stieß der Hund wieder sein dröhnendes Bellen aus und machte einen gewaltigen Satz auf Carmen zu. Sie riss sich den Hut vom Kopf und ließ ihn zu Boden fallen. Im gleichen Moment beruhigte sich der Hund wieder.
»Das ist Yeeb-ek, Schwarzer Nebel«, sagte Pedro und deutete auf den Hund. »Offenbar vermisst
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