Gößling, Andreas
Cingalez hat irgendeinen Hinweis entdecken können, dass in unserem Tal früher mal einer seiner Affenkönige eine Horde Pyramiden bauender Wilder rumkommandiert hat.«
Carmens Gedanken schlugen Saltos. Undeutlich sah sie mit einem Mal die Umrisse einer ungeheuren Verschwörung vor sich, in die so ziemlich jeder verwickelt schien, den sie hier in Flores kannte – Cingalez, der Polizeipräsident, Maria, Gomez, Pedro und womöglich sogar Georg!
Oder verlor sie jetzt vollkommen den Verstand? »Hallo?«, rief sie und hörte sekundenlang nichts als ein tosendes Rauschen. Es klang, als ob jemand das Telefon in einen Wasserfall geschmissen hätte. »Señor, sind Sie noch dran? Sagen Sie mir doch bitte wenigstens die Handynummer meines Vaters.«
»Ah, das ist Pech.« Plötzlich dröhnte die Bassstimme wieder so laut und klar, als ob der Mann neben ihr stünde. »Der Herr Ingenieur hat sein Telefon hier im Campo vergessen – unglücklicherweise, Señorita. Aber wenn Sie ihm etwas bestellen möchten? Er wird draußen übernachten und müsste morgen am frühen Nachmittag zurück sein.«
»Morgen Nachmittag?« Für einen Moment wurde Carmen schwarz vor Augen. Sie machte einen taumelnden Schritt in die Küche und ließ sich auf einen der knarrenden Stühle fallen. »Das ist zu spät, nein – richten Sie ihm bitte nur aus, dass ich angerufen habe und es morgen noch mal versuchen werde. Adiós.«
Als Carmen hinaus auf die Veranda trat, schwirrten Fliegen in schillernden Mengen über dem Tisch. Riesige Wespen rissen Fetzen aus ihren Pfannkuchen und Ananasstücken heraus. Der Himmel war wieder wolkenlos blau, die Luft flimmerte vor Hitze. Über die Wiese, die sich in grünen Wellen bis hinunter zum See erstreckte, taumelten Schmetterlinge, jeder von ihnen so groß und bunt wie die verdammte Maske, wegen der Pedro sie unablässig löcherte.
Er war hinter ihr durch die Tür gekommen und sah sie immerzu auffordernd an. Aber Carmen ließ ihn einfach auf der Veranda stehen und ging in den Garten. Unter den Palmen war es angenehm schattig. Die Hängematte schaukelte im leichten Wind, der wieder vom See her wehte. Ganz unten am Ufer lag ein kleines Boot, daneben hockte eine Gestalt, deren weißes Gewand in der Sonne leuchtete.
Pedro hatte sie aufgefordert mit ihm zu kommen, sofort. Die Maske aus ihrem Versteck zu holen und mit ihm in den Dschungel zu gehen. Dorthin, wo Maria und sein Vater von den wilden Priestern dieses Canek gefangen gehalten wurden. Ihnen sollten sie die Maske übergeben, zum Zeichen ihres guten Willens, und den Canek um Gnade anflehen. Vielleicht konnten sie ja auch mit Maria oder seinem Vater sprechen und von ihnen erfahren, wo die anderen heiligen Sachen waren. Vielleicht würde der Canek ihnen noch ein paar Tage Zeit geben, um diese Sachen doch noch herbeizuholen. Vielleicht, vielleicht… Es klang weniger nach einem Plan als nach Verzweiflung und Hysterie. Und Carmen wusste jetzt überhaupt nicht mehr, was sie machen sollte.
Neben der Hängematte stand die Bank, auf der heute Vormittag Georg gesessen hatte. Sie ließ sich auf das verwitterte Möbel fallen und warf ihren Pferdeschwanz zurück, um möglichst viel vom kühlenden Wind abzubekommen. Heute Vormittag erst! Sie konnte es kaum glauben. Es kam ihr vor, als ob seit Marias Entführung schon Tage vergangen wären. Und wie viel Zeit erst, seit sie Deutschland verlassen hatten. Dabei waren sie vor drei Tagen erst in München abgeflogen. Aber Deutschland, München, ihre Freunde – wie weit weg das alles war. Was Lena wohl sagen würde, wenn sie sehen
könnte, in welchem grässlichen Schlamassel ihre Freundin diesmal steckte? Die chaotische Carmen! Aber chaotisch und wild war hier in Guatemala alles – die Stadt, die Leute, das Wetter, der Wald. Sie musste schlucken. Irgendwo dort drüben im Dschungel, der auf der anderen Seite des Sees wie eine dunkelgrüne Wand aufstieg, musste Maria sein. Gefesselt, gefangen, womöglich in einem Verlies wie dem, das sie für ihren Skelettkönig drinnen im Bungalow nachgebaut hatte. Maria! Was machst du nur für einen Mist! Was um Himmels willen soll ich denn jetzt tun?
Carmen spürte ein Brennen in der Kehle und machte die Augen zu. Auf einmal sah sie Nico vor sich, sein sonnenbraunes Gesicht, die grünen Augen, den lachenden Mund. Ach, Nico! Auch er war schon so weit weg von ihr. Sein Lachen zerfiel vor ihrem inneren Auge und stattdessen tauchte Pedro vor ihr auf, sein kakaobraunes Gesicht, die schwarzen
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