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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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nicht fühlen kann, noch zu heilen bemüht ist
.
    Bei Jacobi heilte die Wunde in dem Moment, da er Goethes Brief empfing: »daß du mich nicht bezahltest«, heißt es in seinem promptem Antwortschreiben, »hab’ ich dir immer zum Besten ausgelegt. Was ich an dir erkannt hatte, das hatte ich tief und unauslöschlich erkannt.« Hiermit setzte der Briefwechsel erneut ein, die Freundschaft lebte wieder auf, doch in den Grenzen, die Goethe im Rückblick so beschreibt:
wir liebten uns, ohne uns zu verstehen
.
Nicht mehr begriff ich die Sprache seiner Philosophie.
    Er hatte ihn, nach der Versöhnung, zunächst noch ganz gut begriffen. Als Jacobi im September 1784 für eine Woche in Weimar zu Besuch ist, spricht man über Spinoza. Jacobi, der zu diesem Thema eine Veröffentlichung vorbereitet, die großes Aufsehen in der allgemeinen Öffentlichkeit und zwischen den Freunden noch einigen Ärger verursachen wird, weckt bei Goethe wieder die alte Liebe zu diesem Philosophen. Die Freunde hatten bereits bei ihrer ersten längeren Begegnung 1775 über Spinoza gesprochen. Jacobi waren Goethes enthusiastische Äußerungen in Gesprächen, bei denen auch Lavater zugegen war, unvergeßlich geblieben. Die von Lavater überlieferten Äußerungen Goethes bezogen sich allerdings weniger auf die Philosophie als auf die Person Spinozas, von dem er damals schon sagte, er sei ein
homo temperatissimus
, ein
äußerst gerechter, aufrichtiger, armer Mann
gewesen.
    Durch Jacobi angeregt, studierte Goethe zusammen mit Charlotte von Stein, die er für dieses schwierige Unternehmen gewann, Spinozas »Ethik«. In den langen Abendstunden las man gemeinsam Satz für Satz. Wenn Goethe etwas genau verstehen wollte, so mußte er darüber sprechen. Durch Lehren lernen, das war auch diesmal sein Prinzip; nun fühlte er sich Spinoza
sehr nahe obgleich sein Geist viel tiefer und reiner ist als der meinige
.
    Es war also Jacobi, der Goethe im Herbst 1784 wieder zu Spinoza hinführte, und ein knappes Jahr später wird Goethe den wiederentdeckten Spinoza gegen Jacobi verteidigen müssen in dem großen Streit um Spinoza, den Jacobis Schrift aufrührte.
    Als Goethe 1773/74 zum ersten Mal Spinoza las, galt dieser noch als ein verruchter, gefährlicher Atheist, als schlimmer Ketzer. Man las ihn nicht, man zitierte ihn nur zur Abschreckung. Auch Goethe hatte ihn noch nicht gelesen, als er den Spinozismus 1770 als
abscheuliche Irrlehre
abtat, obwohl er sich damals schon einem pantheistischen Denken annäherte, also schon fast Spinozist war, ohne es zu merken.
    Spinoza, dieser Philosoph des 17. Jahrhunderts, Sproß einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Amsterdam, hatte Gott identisch gesetzt mit Natur. Offenbarung ereignet sich in der Natur, nicht in irgendwelchen heiligen Schriften. Gott ist nicht außerhalb der Welt, er ist in ihr. Er ist, wie Spinoza es nennt, ihre »Substanz«. Man selbst gehört zu dieser Substanz, will es aber nicht wahrhaben. Wie kommt man zur bewußten Teilhabe? Man geht den Weg des strengen Denkens, nicht der frommen Hinnahme überirdischer Eingebungen. Dieses Denken »more geometrico«, wie Spinoza es nennt, ist von asketischer Zucht. Streng, frei von Eitelkeit und Selbstdarstellung, geht der Denkende auf in der zu denkenden Sache, um ihr gerecht zu werden. Man muß zunächst von sich absehen, um die Dinge richtig zu sehen – und dann erst kehrt man bereichert in sich selbst zurück. Dieses asketische Denken hat einen religiösen Zug, ohne Religion zu sein. Es war wohl diese Frömmigkeit des Denkens, die den jungen Goethe so anzog, als er Spinoza einen
homo temperatissimus
nannte. Spinoza selbst hatte den Charakter seines Philosophierens zu Beginn der Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes deutlich ausgesprochen: Die Erfahrung habe ihn gelehrt, daß alles, was den gewöhnlichen Inhalt des Lebens ausmacht, eitel und wertlos sei, und er habe sich deshalb entschlossen, nachzuforschen, ob es irgend ein wahres Gut gebe, durch das man beständige und vollkommene Freude genießen könne. Reichtum, Ehre, Sinnenlust gehören für ihn nicht zu diesem wahren Gut, denn sie schwinden dahin, geben keinen Halt, machen abhängig. Halt gibt nur die Erkenntnis der Einheit, die den Geist mit der gesamten Natur verbindet.
    Das ist kühn gedacht, denn die Denkgebäude der Tradition, von denen Spinoza sich absetzte, waren keine selbsttragenden Konstruktionen: Wenn die christliche oder jüdische Glaubensprämisse als erlebte Wirklichkeit entfällt,

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