Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
stürzt alles in sich zusammen. Für diese Tradition gilt: Der Glaube hatte die universalen Wahrheiten empfangen, welche die denkende Vernunft dann nachvollzieht. Man fand Halt im Glauben, aber auch in den Institutionen, Traditionen, Ritualen, in denen sich die ganze kollektive Glaubensgeschichte verfestigt. Der alte Glaube war nicht ein Ereignis von abgespaltener, alleingelassener Innerlichkeit, sondern von gemeinschaftlicher, wechselseitiger Selbstbefestigung. Spinoza verzichtete auf diesen Halt im öffentlichen Glauben und in der religiösen Gemeinschaft. Die jüdische Gemeinde in Amsterdam verfolgte ihn als Ketzer, er mußte um sein Leben fürchten. Er zog sich zurück und verdiente seinen Lebensunterhalt als Linsenschleifer.
Ist die Erkenntnis der Einheit, die den Geist mit der gesamten Natur verbindet wirklich etwas, das imstande ist, das Leben zu tragen und ihm Ruhe und sogar Glück zu geben? Diese Frage stellte Goethe. Beantworten läßt sie sich wohl nur im Nachvollzug von Spinozas Ansichten. Bei ihm ist das Denken und Erkennen eine Macht, die von Ängsten befreit. In der christlichen Metaphysik gab es dieses Zutrauen in die erlösende Macht des Denkens nicht, dort galt: gegen die Weltangst hilft nur die Liebe, auf die Liebe des Schöpfers gründet das Weltvertrauen. So wie die göttliche Liebe die Welt aus dem Nichts geschaffen hat, so bewahrt die Erfahrung, geliebt und damit bejaht zu sein, vor dem Nichts. Das Vertrauen auf das Denken ist einem solchen Glauben gegenüber sekundär. Spinoza aber verläßt sich ganz und gar auf das Denken. Liebe ist allerdings auch im Spiel. Doch er glaubt nicht an eine jenseitige Quelle der Liebe, sondern für ihn ist das Erkennen der Welt, die Widerspiegelung des Ganzen im menschlichen Geist, eine Art Liebesakt. »Gottesliebe«, von der auch Spinoza spricht, ist nichts anderes als Erkenntnisvollzug. Das Bewußtsein schließt sich im Erkennen mit dem Sein zusammen. Es ist die große Vereinigung, in der das Wesen der »Substanz« deutlich wird, nämlich daß sie Geist und Materie umfaßt, die beiden Seiten der einen Natur. Der Geist steht nicht in einem Gegensatz zur Natur, er ist, so könnte man sagen, der andere Zustand der Natur; dasjenige an der Natur, das sich ihrer selbst bewußt ist. Außer dem Ganzen dieser substantiellen Natur, die ausgedehnt und zugleich denkend ist, gibt es nichts. Wie sollte es auch, es wäre dann ja nicht das Ganze. Gott ist nicht jenseits, er ist dieses Ganze der Natur: ›Deus sive substantia sive natura‹, Gott ist gleichermaßen Substanz und Natur, lautet die Formel Spinozas.
Es kommt nun darauf an, als was Natur angesehen wird, als ein Reich der Freiheit oder der Notwendigkeit. Der Schöpfungsglaube sieht in der Natur ein Werk der Freiheit, denn Gott hat sie aus freien Stücken geschaffen, und nicht weil er mußte. Sie bleibt auch auf den Zustrom der Gnade angewiesen, sie ist kein sich selbst erhaltender Mechanismus. Der Mensch, selbst Teil der Schöpfung, kann und muß sich dazu verhalten. Die menschliche Freiheit kann auf die göttliche Freiheit antworten.
So aber verhält es sich bei Spinoza nicht. Die Natur ist ein Universum der Notwendigkeit. Das Bewußtsein der Freiheit ist eine Illusion. Es ist so, erklärt er, als würde der Stein glauben, er falle aus eigenem Willen zur Erde. Alles geschieht aus Kausalität, auch das, was im Menschen und zwischen den Menschen geschieht, ist davon bestimmt, ohne Ausnahme. Der Kausalnexus ist nicht zielbezogen. Es gibt keine Zweckursachen, also Vorgänge, die deshalb geschehen, weil zuvor ein Ziel ins Auge gefaßt wurde. Deshalb ist es sinnlos, nach dem Zweck der ganzen Natur zu fragen; aber es ist auch irreführend zu glauben, der Mensch handle nach Zweck und Absicht. Vordergründig sieht es so aus, in Wirklichkeit aber hat der Mensch Absichten, weil die Kausalität ihn hinterrücks drängt. Der Lehrsatz 32 im Teil I der »Ethik«, wohl das einzige Werk Spinozas, das Goethe gelesen hat, lautet: »Der Wille kann nicht eine freie Ursache genannt werden sondern nur eine notwendige 〈...〉 daher kann jede einzelne Wollung nur dann existieren und zum Wirken bestimmt werden, wenn sie von einer anderen Ursache bestimmt wird, und diese wiederum von einer anderen, und so weiter ins Unendliche.«
Die Leugnung der Zweckursächlichkeit und der Mechanismusgedanke haben mächtig fortgewirkt im materialistischen Naturbild des 19. Jahrhunderts. Um einige dynamische Komponenten bereichert, ist es bis heute
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