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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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das machthabende Weltbild geblieben, das selbstverständlich ganz ohne Gott auskommt. Auch der Erkenntnisakt selbst ist nicht mehr, wie noch bei Spinoza, eine Art Gottesdienst, sondern folgt praktischen Erwägungen des Nutzens und der Herrschaft.
    Das Naturbild, in das sich Spinoza hineindenkt, enthält zwar noch religiöse Restwärme. Aber die Natur funktioniert darin wie ein unbelebter Mechanismus. Sie ist ein Ort, an dem wir uns zu Hause fühlen können, und zwar deshalb, weil wir aus ihrem Stoff sind und ebenso wie sie funktionieren. Wenn wir uns »reinigen«, wenn wir also das Bewußtsein von den Trugbildern der Einbildungskraft befreien und die Affekte disziplinieren, die uns an der freien Übersicht hindern, dann können wir uns wirklichkeitsgerecht verhalten und werden nicht von überflüssigen Ängsten und Sorgen geplagt.
    Doch ehe das Naturbild im 19. Jahrhundert vollends erkaltete, brachte Spinoza mit der religiösen Restwärme seines Naturbegriffs den Pantheismus um 1800 auf den Weg. An Herder, Goethe und Schelling zeigt sich dieser Zusammenhang. Sie haben sich alle von Spinoza anregen lassen, allerdings mußten sie dabei dem Naturbegriff ein schöpferisches Leben zurückgeben, das Spinoza ihm genommen hatte, obwohl auch er von der »natura naturans« im Unterschied zur »natura naturata« gesprochen hatte. Aber bei Spinoza ist doch alles schon fertig, ein gerundetes Sein. Die pantheistischen Strömungen bei Herder, Goethe und Schelling betonen den Aspekt des Werdens. Bei ihnen ist das Sein ein ständiges Werden, bei Spinoza ist das Werden eigentlich ein ruhendes Sein, es ist nichts anderes als die zeitliche Entfaltung dessen, was gesammelt immer schon in der Substanz ruht.
    Sehen wir, was Goethe aus Spinoza herausliest. Bei der gemeinsamen Lektüre der »Ethik« von Spinoza im Späherbst 1784 hat er Charlotte einige Gedanken dazu diktiert.
    Zunächst hält er die Idee fest, daß die Unendlichkeit nicht der Sphäre einer göttlichen, jenseitigen Überwelt angehört. Nein, sie beginnt bei jedem konkreten Ding und Sachverhalt, und man wird, wenn man sich darauf einläßt, übergangslos hinausgetragen ins Unendliche und Ungeheure, das einen unergründlich umgibt und umhüllt. Doch jedes Lebewesen und Ding hat seinen beschränkten Platz darin. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber Goethe betont es besonders, weil es ihm offenbar auf die Behauptung der Grenzen inmitten der Grenzenlosigkeit ankommt. Es soll nicht alles ineinander verfließen, sondern sein jeweiliges Zentrum und seinen bestimmten Umriß bewahren. Alles, was ist, ist einerseits von innen her bestimmt und zugleich von grenzenloser äußerer Bestimmbarkeit. Es kommt Goethe auf das Gleichgewicht zwischen den inneren Bildungskräften und der Bildbarkeit von außen an. Spinoza hat es mit den universellen Gesetzen zu tun, Goethe aber betont das individuelle Gesetz.
Wir können uns nicht denken daß etwas Beschränktes durch sich selbst existiere und doch existiert alles wirklich durch sich selbst ob gleich die Zustände so verkettet sind daß einer aus den andern sich entwickeln muß und es also scheint daß ein Ding vom andern hervorgebracht werde welches aber nicht ist, sondern ein lebendiges Wesen gibt dem andern Anlaß zu sein und nötigt es in einem bestimmten Zustand zu existieren.
Goethe greift Spinozas Gedanken des »deus sive natura« auf, doch lenkt er den Blick vom Ganzen auf das Einzelne zurück. Das Einzelne soll mit seinem unverwechselbaren Eigensinn nicht im Ganzen untergehen. Dieses Festhalten am Eigensinn des Einzelnen unterscheidet ihn von Spinoza, von dem er sagt, daß
vor seinem Blicke alle einzelne Dinge zu verschwinden scheinen.
    Der zweite Gedanke, den Goethe im Anschluß an Spinoza hervorhebt, geht aus von dieser Reflexion über das Thema von Grenzen inmitten des Grenzenlosen. Es besteht die Gefahr, heißt es in dem Text, daß man vorzeitig den
Kreis
um sich schließt und
bescheiden trotzig
merken läßt, daß man
im Wahren eine Sicherheit gefunden
habe, welche
über allen Beweis und Verstand erhaben sei.
Gemeint sind hier die Frommen, die sich aus ein paar Glaubenssätzen die Welt erklären und auf die Anstrengung des Erkennens glauben verzichten zu können mit dem Hinweis, man müsse nur
immer einfältiger und einfältiger
werden und sich
aller mannigfaltigen verwirrenden Verhältnisse entschlagen
. Man soll sich nicht auf den Glauben zurückziehen, wenn für das Erkennen noch viel zu tun bleibt. Solche

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