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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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geht.
    Gleichwohl setzt sich das Gespräch über Religion noch eine Weile fort. Goethe mochte sich über Lavater ärgern, doch waren diese Auseinandersetzungen auch wichtig für die Selbstklärung in Fragen der Religion. Dabei tastet sich Goethe vor zu einem naturgeschichtlichen und kulturanthropologischen Verständnis der Religion.
Großen Dank verdient die Natur
, schreibt er,
daß sie in die Existenz eines jeden lebendigen Wesens auch so viel Heilungskraft gelegt hat, daß es sich, wenn es an dem einen oder dem andern Ende zerrissen wird, selbst wieder zusammenflicken kann; und was sind die tausendfältigen Religionen anders als tausendfache Äußerungen dieser Heilungskraft. Mein Pflaster schlägt bei dir nicht an, deins nicht bei mir, in unsers Vaters Apotheke sind viel Rezepte.
Religion also als ein geistiges und zugleich natürliches Mittel, um die zerrissene Natur im Menschen zu heilen. Das heißt: Wir brauchen keinen überweltlichen Gott, es ist die bessere Natur in uns, die uns hilft. Diese bessere Natur nimmt die Form der Religion an. Bis zu dieser Position gelangt Goethe und antizipiert die spätere Anthropologie, die sich im 20. Jahrhundert bei Arnold Gehlen und Helmuth Plessner zuspitzen wird zu der These, der Mensch sei ein Mängelwesen, das von Natur aus auf Kultur angewiesen sei, wobei dann Kultur die von Goethe gemeinten Heilungskräfte einschließt.
    Soweit der anthropologische Gedankengang. Im selben Brief entwickelt Goethe auch einen psychologischen. Der Glaube, jeder Glaube, ist für sich selbst undurchsichtig. Wer glaubt, weiß nicht so genau, was es eigentlich ist, das in ihm glaubt. Es ist jedenfalls etwas anderes, als der Gläubige – glaubt. Nicht nur hier, aber hier ganz besonders befindet man sich im blinden Fleck seiner selbst.
Das was der Mensch an sich bemerkt und fühlt, scheint mir der geringste Teil seines Daseins
. Bewußtsein ist eben nicht bewußtes Sein. Es ist immer ärmer als das eigene Sein. Eine geniale Einsicht, hier fast beiläufig vorgetragen, später mit erheblichem Pathos formuliert.
Hierbei bekenn’ ich
, heißt es in der Schrift »Zur Morphologie«,
daß mir von jeher die große und so bedeutend klingende Aufgabe:
erkenne dich selbst,
immer verdächtig vorkam.
Im Brief an Lavater ist davon die Rede, daß man
zusammenschrumpft
beim Versuch, sich selbst zu ergründen. Warum? Weil man eher das bemerkt, was einem fehlt und was schmerzt, nicht aber was man besitzt und was einen trägt. Es ist vor allem der Mangel, der zu Bewußtsein kommt, nicht die Fülle. Die gewöhnlichen und populären Religionen sind phantastische Kompensationen der Mängel, derer man sich bewußt ist. Deshalb sind sie oberflächlich. Religionen würden tiefer reichen, wenn sie Ausdruck der Erfahrung von Fülle wären. Wenn Goethe mit einer Religion sympathisiert, dann ist es, wie man später im »West-östlichen Divan« sehen wird, eine solche Religion der Fülle, des Überflusses, des Ja-Sagens.
    Nach dem ausführlichen Brief vom 4. Oktober 1782 versiegt der Briefwechsel allmählich. Der allerletzte Brief ist noch einmal bemerkenswert. Da meldet Goethe im Dezember 1783 nach Zürich, es habe sich die Freundschaft mit Herder wieder hergestellt. Das eine Freundschaftsband löst sich auf, ein anderes knüpft sich wieder fester zusammen. Von nun an sind es vor allem Herder und der wiederversöhnte Jacobi, mit denen Goethe sich über Religionsdinge austauscht. Lavater indes verschwindet aus seinem Leben.
    Am 21. Juli 1786 kommt Lavater noch ein letztes Mal zu Besuch nach Weimar. Man hat sich nicht mehr viel zu sagen. An Charlotte von Stein schreibt Goethe:
Kein herzlich, vertraulich Wort ist unter uns gewechselt worden und ich bin Haß und Liebe auf ewig los.
〈...〉
Ich habe auch unter
seine
Existenz einen großen Strich gemacht und weiß nun was mir per Saldo von ihm übrig bleibt.
Auch Lavater spürte die Entfremdung. An einen Bekannten schrieb er: »Ich fand Goethe älter, kälter, weiser, fester, verschlossener, praktischer.«
    Dann zehn Jahre später im Herbst 1797 die letzte Begegnung, die keine war. Bei Goethes dritter Schweizer Reise sah er in Zürich auf einer Straße Lavater ihm entgegenkommen. Goethe wechselt die Straßenseite, um nicht bemerkt zu werden. Lavater ging an ihm vorüber und erkannte ihn nicht.
Sein Gang war wie der eines Kranichs
, mehr wollte Goethe darüber nicht sagen.
    Anmerkungen

Sechzehntes Kapitel
    Ruhe und Granit. Versöhnung mit Jacobi. Spinoza-Lektüre.
    Spinoza,

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