Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
beaufsichtigt und lenkt, da begegnet ihm der Abbé, ein Drahtzieher dieser Gesellschaft, der
gern ein wenig das Schicksal spielt
. Die freimaurerartige Gesellschaft vom Turm und ihr Netzwerk bilden insgesamt eine Spielwelt, in der Wilhelm mitgespielt hat, ohne es zu bemerken. Auch wenn ihm dabei durchaus nicht übel mitgespielt worden ist, ist die Initiation in diese Geheimgesellschaft für Wilhelm enttäuschend. Waren die schicksalhaften Vorkommnisse also nur gelenkt, gemacht, manipuliert?
Also mit diesen würdigen Zeichen und Worten spielt man nur,
fragt Wilhelm einen der Oberen. Die Frage läßt sich auch an den Autor selbst richten. Warum diese ganze Maschinerie im Hintergrund?
Schiller stellte die Frage. Zunächst hatte er sich in dieser Sache noch zurückgehalten, hatte er doch selbst auch einen Geheimbundroman verfaßt und wußte deshalb nur zu gut, daß beim Publikum solche »Maschinerien« ankommen und ein Autor gerne darauf spekuliert. »Ich glaube zu bemerken«, schreibt Schiller, »daß eine gewisse Condescendenz gegen die schwache Seite des Publikums sie verleitet hat«.
Die Frage ist für Schiller so bedeutsam, weil sie das Problem der Freiheit berührt. Wenn Wilhelm aus der Theaterszene in die tüchtige Welt Lotharios gefunden hat, wie ist er dorthin gekommen? Hat Wilhelm Meister etwas aus sich gemacht, oder wurde er gemacht – von außen (durch die Turmgesellschaft) oder von innen (durch seine gute Natur)? Schiller erklärt unverhohlen, daß es ihm am liebsten wäre, wenn Wilhelm Meister ein Protagonist der Freiheit wäre, wenn sein Schicksal sich einem Selbstentwurf und einer Entschlossenheit verdankte. Er gesteht zu, daß es eine »gesunde und schöne Natur« gibt, die sich nicht selber moralisch zwingen muß, sondern von der Neigung her den richtigen Weg geht. Aber als eine solche gesunde und schöne Natur kann Wilhelm so lange nicht gelten, wie er von der Turmgesellschaft geschoben und gezogen wird. Durch das Wirken der Turmgesellschaft im Hintergrund entzieht Goethe, so Schiller, seinem Protagonisten beides, die Freiheit, sich selbst zu leiten, und die schöne Natur, die auch nicht geleitet zu werden braucht. Was übrig bleibt, ist dann eine recht ärmliche Figur, die Glück gehabt hat und vom Schicksal, hier der Turmgesellschaft, verwöhnt wird.
In Schillers Kritik an der Figur des Wilhelm Meister blitzt für einen Augenblick sein Ressentiment gegen Goethe auf. Einst hatte er an Körner geschrieben: »Wie leicht ward sein Genie von seinem Schicksal getragen, und wie muß ich bis auf diese Minute noch kämpfen!« Ist Wilhelm Meister nicht auch so ein Günstling des Schicksals, der nicht zu kämpfen braucht und deshalb auch nicht weiß, was Freiheit ist? Einst richtete sich das Ressentiment gegen Goethe selbst, jetzt hat Schiller gelernt, den Vortrefflichen zu lieben und deshalb bekommt die Romanfigur Wilhelm Meister die Prügel ab, die ursprünglich Goethe zugedacht waren.
Was Schiller nicht wahrhaben möchte, ist, daß Goethe recht lässig die Maschinerie im Hintergrund, die Gesellschaft vom Turm, handhabt. Es ist ihm nicht so ganz ernst damit:
alles was Sie im Turme gesehen haben, sind eigentlich nur noch Reliquien von einem jugendlichen Unternehmen, bei dem es anfangs den meisten Eingeweihten großer Ernst war, und über das nun alle gelegentlich nur lächeln.
Es ist ausdrücklich nicht die Turmgesellschaft, die den Absolventen der Lehrjahre mit den nötigen Kräften ausstattet, es ist aber auch nicht dessen Freiheit, sondern es ist eben doch – die gute Natur. Einzig und allein weil Wilhelm Meister inzwischen Vater geworden ist und er diese Rolle bewußt annimmt und auszufüllen entschlossen ist, nur deshalb sind seine
Lehrjahre geendigt
. Die Wirkung dieses inneren Wachstums ist eine Art Einwurzelung:
Er sah die Welt nicht mehr wie ein Zugvogel an, ein Gebäude nicht mehr für eine geschwind zusammengestellte Laube, die vertrocknet, ehe man sie verläßt. Alles, was er anzulegen gedachte, sollte dem Knaben entgegen wachsen, und alles, was er herstellte, sollte eine Dauer auf einige Geschlechter haben.
〈...〉
mit dem Gefühl des Vaters hatte er auch alle Tugenden eines Bürgers erworben.
Goethe fragte sich bisweilen, ob man den Roman überhaupt enden lassen müsse oder ob man ihn nicht einfach fortspinnen sollte, ohne eigentlichen Abschluß. Wilhelms Ansiedlung als Vater mit Sohn und Frau, das hätte ja ein veritabler Abschluß sein können. Da aber der Ehebund mit der trockenen und
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