Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
tüchtigen Therese zu seinem Glück dann doch nicht zustande kommt, und Natalie immer noch unerreichbar scheint, spann Goethe die Geschichte weiter aus,
nachtwandlerisch
wie es seine Art war. Wilhelm Meister, von dem wir soeben gehört haben, daß seine Lehrjahre beendet seien, will sich wieder auf den Weg machen und ins Unfertige und Vorläufige entweichen:
Sein Entschluß sich zu entfernen, das Kind mit sich zu nehmen, und sich an den Gegenständen der Welt zu zerstreuen, war nun sein fester Vorsatz.
Die Ereignisse nehmen dann noch einmal eine Wendung. Wilhelm darf sich nun doch Hoffnung auf Natalie machen. Aber zur Vermählung kommt es immer noch nicht, und Wilhelm will wieder über die Alpen in den Süden. Doch das Land, wo die Zitronen blühen, hat inzwischen einigen Zauber verloren mit dem Verblassen von Mignon. Schiller hatte es kritisiert, wie Goethe diese Botin des Südens und Sinnbild des romantischen Geheimnisses am Ende aus dem Roman entfernt. Mignon stirbt, und Wilhelm hat nichts Eiligeres zu tun, als mit dem Arzt die Vorbereitungen zu treffen, um die Leiche zu präparieren. Als würde das Sinnbild der Sehnsucht nun ausgestopft. Schiller nimmt Anstoß an der pietätlosen Eile: Man solle auf die sentimentalischen Forderungen der Leser Rücksicht nehmen und ein wenig trauern. Goethe beeilt sich, es Schiller recht zu machen, und so darf Wilhelm seinen Schmerz an Thereses Brust ausweinen.
Schiller genügt das. Nicht aber der romantischen Kritik, die es nicht hinnehmen will, daß das Wunderbare zum Wunderlichen herabgesetzt wird. Und wirklich ist am Ende die Bühne rationalistisch leergefegt, die Rätsel sind erklärt und die Geheimnisse gelüftet. Mignon und der Harfenspieler erscheinen als pathologische Fälle mit abstrusen Vorgeschichten aus Inzest, Aberglaube und gewöhnlichem Wahnsinn. Für Novalis ist das Ende des Romans der Beweis, daß hier die Poesie verraten werde: »Künstlerischer Atheïsmus ist der Geist des Buches«. Nicht Lehrjahre seien das Thema des Romans, sondern »die Wallfahrt nach dem Adelsdiplom«.
So gesehen wäre Wilhelm Meisters scheinbare Erfolgsgeschichte auch als Geschichte einer Einschränkung und eines Verlustes zu lesen – und zwar nicht nur aus der Perspektive des Autors, denn auch Wilhelm kommt bei der Begegnung mit Therese nicht umhin, einen Verlust zu erkennen und zu empfinden:
da ich ohne Zweck und Plan leicht, ja leichtfertig lebte, kamen mir Freundschaft, Liebe, Neigung, Zutrauen mit offenen Armen entgegen, ja sie drängten sich zu mir; jetzt da es Ernst wird, scheint das Schicksal mit mir einen andern Weg zu nehmen.
Gleichwohl gibt es auch zahlreiche Hinweise darauf, daß die Geschichte Wilhelms auch als Aufstieg und wahrhafte Erfüllung gelten kann, weil das Prosaische dem gemeinen Verstand einfach näher liegt als das Poetische. Wie auch immer, das Ganze bleibt wie in ein eigentümliches Zwielicht getaucht. Goethe hatte seine Gründe, an Schiller, der ihn zu mehr Deutlichkeit bewegen wollte, zu schreiben:
Es ist keine Frage daß die scheinbaren, von mir ausgesprochenen Resultate viel beschränkter sind als der Inhalt des Werks
. Dieser umfassendere
Inhalt des Werks,
wäre dann das poetische Medium, worin der prosaische Abstieg des Wilhelm Meister als
beschränktes
Resultat zu gelten hätte. So gesehen wäre der Geist des Romans dann doch mehr als die ominöse Wallfahrt nach dem Adelsdiplom.
Es hätte den »Horen« wohl nicht geholfen, wenn der »Wilhelm Meister«, wie von Schiller gewünscht, dort als Vorabdruck erschienen wäre, denn die unmittelbare Wirkung dieses Romans, der später erst Epoche machen wird, war gering. Das größere Publikum, das etwas Leidenschaftliches von der Art des »Werther« erwartet hatte, war enttäuscht und gelangweilt. Der Philosoph Christian Garve witzelte, wenn schon Mariane, Wilhelms Geliebte, bei dessen Erzählungen einschläft, wie konnte dann der Autor glauben, daß es den nicht in ihn verliebten Lesern besser ergehen sollte. Er habe es bei seinem Roman unterlassen, schreibt Goethe an Schiller,
mehr Wasser des Raisonnements
zuzugießen. Für das Publikum aber gab es immer noch zu viel davon. Diese endlosen Diskurse über Gott und die Welt und das Theater! Wer sich nicht langweilte, empörte sich über die Sittenlosigkeit der Schauspielerwelt, deren Schilderung den größeren Teil des Romans ausmacht. Charlotte von Stein schrieb an ihren Sohn: »Übrigens sind seine Frauens drin alle von unschicklichem Betragen, und wo er edle
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