Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
angetan. Sie stellte sich ihm beim »Achilleis«-Projekt, denn es waren ihm inzwischen Zweifel gekommen, ob der Stoff, der Tod des Achill, sich nicht womöglich besser für ein Drama eigne als für ein Epos, wie er es plante. Um das Gespräch über die gattungstheoretische Thematik in Gang zu bringen, übersandte Goethe dem Freund einen Textentwurf, der die bis dahin gemeinsam angestellten Überlegungen zusammenfaßte. Den überarbeiteten Text »Über epische und dramatische Dichtung« veröffentlichte er ein Vierteljahrhundert später unter seinem und Schillers Namen, denn die dort entwickelten Gedanken empfand er stets als Gemeinschaftswerk.
Man einigte sich auf den Grundsatz,
daß der Epiker die Begebenheit als
vollkommen vergangen
vorträgt, und der Dramatiker sie als
vollkommen gegenwärtig
darstellt.
Im Briefgespräch werden Folgerungen aus diesem Grundsatz gezogen, die über das in dem späteren Aufsatz festgehaltene hinausgehen.
Der Vergangenheitscharakter der Epik schafft Distanz, man kann um die erzählten Ereignisse gewissermaßen herumgehen und sie aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Indem der Epiker Abstand hält, erlaubt er dem Publikum, seinerseits Abstand zu nehmen. Der Epiker beherrscht das Ereignis und die Zeit, er kann vor und zurück gehen mit Abschweifungen und Zeitsprüngen. Der epische Abstand ist auch eine Gelegenheit zur Reflexion, man kann sich auf eine höhere Ebene begeben. Der Erzähler ist also in dreifacher Hinsicht souverän: Er steht über dem Geschehen, er ist Herr der Zeit, und er erhebt sich gedanklich über seine Protagonisten.
Schiller interpretierte diese dreifache Souveränität als gesteigerte
Freiheit
. Der Erzähler ist frei gegenüber der von ihm dargestellten Welt, und ebenso frei ist der Rezipient, der sich auf die ihm angebotene Ebene der Souveränität begeben kann. Ihm wird ein freier Spielraum gewährt, allerdings wird er von einer anderen Seite stärker gefordert: er muß nämlich das Erzählte auf seiner inneren Bühne erst noch imaginieren. Anders im Theater, dort kommt ihm das Geschehen von außen fertig entgegen. Es bleibt mehr zu tun. Das Theater oder die Bilder, so Goethe, machen es dem Rezipienten leicht und bequem. Statt mühsam einen ganzen Roman zu lesen, will man die Geschichte schnell und spannend auf der Bühne dargestellt haben. Die Vorstellung im Theater enthebt der Mühe, sich selbst etwas vorzustellen. Es läuft auf die Unterscheidung hinaus: Das Epos fordert mehr Eigentätigkeit, während das Drama sie einem eher erspart. Schiller formuliert es so: »Die dramatische Handlung bewegt sich vor mir, um die epische bewege ich mich selbst«.
Unter dem Gesichtspunkt der Freiheit und der Eigentätigkeit wäre damit dem Epischen ein höherer Rang zugestanden. Und wirklich scheint Goethe, dessen Stücke sowieso eine Tendenz zum Epischen aufweisen, diese Wertung vorzunehmen, als er an Schiller schreibt:
Warum gelingt uns das Epische so selten? Weil wir keine Zuhörer haben
. Darauf Schiller: »Wenn das Drama wirklich durch einen so schlechten Hang des Zeitalters in Schutz genommen wird, wie ich nicht zweifle, so müßte man die Reforme beim Drama anfangen, und durch Verdrängung der gemeinen Naturnachahmung der Kunst Luft und Licht verschaffen.«
Die Theaterkunst reinigen, indem die »gemeine Naturnachahmung« verdrängt wird – so formuliert Schiller die Forderung nach einer Theaterreform, welche die Freunde von nun an als gemeinsame Aufgabe ansehen. Das Theater, so Schiller, neigt gerade wegen seiner abstandslosen Gegenwärtigkeit zur Wirklichkeitsillusion, zum »Naturalismus«, wie die Freunde die »gemeine Naturnachahmung« gerne bezeichnen. Dagegen kommt es ihnen darauf an, die bloße Naturwahrheit in Kunstwahrheit umzuwandeln, was Verfremdung und Steigerung bedeutet. Es sind dies Gedanken, die Goethe der soeben mit Meyer begründeten Schriftenreihe »Propyläen« programmatisch zugrunde legte. Auch hier sollte es, wie bei der in Aussicht genommenen Theaterreform, um ein vertieftes Verständnis von Kunstwahrheit gehen in Abgrenzung zu naturalistischen Tendenzen.
Im Herbst 1797, als das Ende der »Horen« absehbar war, hatte Goethe den Plan gefaßt, ein neues Periodikum herauszugeben, eher eine Schriftenreihe als eine Zeitschrift. Nach einem Vorschlag Meyers sollte sie »Propyläen« heißen, wie die Vorhalle zum Allerheiligsten des griechischen Tempels. Hier sollte das Publikum im Sinne des Winckelmannschen Klassizismus darin unterwiesen
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