Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Tages inzwischen zwar sehr gut nachkam, daß er aber befürchten mußte, die poetische Ader könnte ihm austrocknen. Er suchte die Entscheidung: Hat er als Autor noch eine Zukunft oder nur eine Vergangenheit? Kann er noch etwas vollenden oder nur seine Fragmente einsammeln? Mit der Flucht nach Italien wollte er nicht nur das Land der Kunst besuchen, er wollte auch überprüfen, ob er selbst denn noch ein Künstler sei. Beglückt fand er sich als Künstler wieder, allerdings als Dichter, nicht als Maler, was ihm auch gefallen hätte. Doch ein Dichter nicht als Schmerzensmann, als Opfer, also nicht wie Tasso, der an den Weltleuten verzweifelt, sondern einer, der über den Gegensatz zwischen dem Künstler Tasso und dem Weltmann Antonio erhaben ist; der die Gegensätze versteht, aber von ihnen nicht zerrissen wird. Goethe kehrt mit der Idee des souveränen Menschen aus Italien zurück.
Es kam ihm darauf an, im Amt, bei den Wissenschaften, in der Kunst das jeweils Bestmögliche zu leisten und die verschiedenen Tätigkeiten so miteinander zu verbinden, daß sie sich gegenseitig fördern konnten. Dieses innere Gleichgewicht hatte er kurz vor Italien verloren, weil nicht mehr klar war, wo eigentlich der Schwerpunkt lag. In Italien fand er ihn wieder – eben im Künstlertum. Nach der Rückkehr hielt er daran fest, stand aber vor der Aufgabe, es ins Gleichgewicht zu den anderen Tätigkeiten zu bringen. Ganz entscheidend half ihm dabei die Freundschaft mit Schiller, der ihn nicht nur energisch auf die Kunst verwies, sondern ihm eine Art der Bewußtheit über sich selbst gab, die er so bisher noch nicht gekannt hatte. Das Dichten war bisher fast nur eine Liebhaberei gewesen, jetzt betrieb er es, angestachelt durch Schillers hohen Kunstverstand, mit professionellem Ernst und handwerklicher Abgebrühtheit. Das Technische, Formale wurde Gegenstand der Reflexion. Die beiden wuchsen zu einem Selbstbewußtsein empor, das es ihnen schließlich erlaubte, als Präzeptoren der deutschen Literatur aufzutreten. Schiller steuerte die Idee der machtvollen Beherrschung des Stoffes bei, und Goethe die Idee der natürlichen Reinheit.
Der Zeitenbruch der Französischen Revolution bildete den Hintergrund dieser Selbstbehauptung des Kunstwillens. Wenn alles in Bewegung gerät, so die Überzeugung der Freunde, muß die Kunst Orientierung und Festigkeit geben. Schiller setzte auf kultivierte Freiheit, Goethe auf geläuterte Natürlichkeit. Beide versprachen sich einiges vom Spiel der Kunst, wobei Schiller an die Menschheit dachte, Goethe an den kleinen Kreis der Kunstfreunde. Er war bescheidener in seinen Erwartungen und Hoffnungen in Bezug auf die gesellschaftliche Wirksamkeit der Kunst. Gegen den Weltlauf, so dachte er, richtet die
zarte Empirie
der Kunst wenig aus.
Schillers Tod markiert eine Zäsur. Er bedeutete für Goethe den Abschied von der Kunstperiode, jenem goldenen Zeitalter, als für eine kurze Zeitspanne die Kunst nicht nur zu den schönen, sondern zu den wichtigsten Dingen des Lebens gehörte.
Anmerkungen
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Trauerarbeiten nach Schillers Tod. Tändelei. Wieder Faust.
Das große Gespräch mit Heinrich Luden über »Faust«.
Die Katastrophe vom 14. Oktober 1806. Weimar geplündert
und besetzt. Goethe in Angst und im Glück. Lebensveränderungen.
Begegnung mit Napoleon 1808.
Goethe war in den ersten Tagen nach Schillers Tod am 9. Mai 1805 wie betäubt. Auch die Krankheit, die Gürtelrose, quälte ihn. Er kam kaum aus seiner Arbeitsstube heraus. Er behalf sich, indem er
dem Tode zu Trutz
eine eigene Form von Totengespräch erfand. Er machte sich nämlich daran, den »Demetrius«, das letzte Fragment gebliebene Stück Schillers, zu vollenden. Es sollte ein postumes Gemeinschaftswerk werden. Goethe wollte die Atmosphäre des Zusammenwirkens bewahren, so als sei der Freund noch am Leben. Dem Tod sollte keine Macht über das Leben gegeben werden.
Sein Verlust schien mir ersetzt, indem ich sein Dasein fortsetzte.
Goethe stellte sich eine Aufführung des »Demetrius« am Deutschen Theater in Berlin vor, es könnte die
herrlichste Totenfeier
werden, in diesem Werk würden der Freund und er gemeinsam weiterleben. Aus der
Verzweiflung
über den Verlust des Freundes rettete er sich in einen flackernden
Enthusiasmus
beim Pläneschmieden. Goethe konnte sich wirklich für einen Augenblick über den Tod des Freundes hinwegträumen. Diese Stimmung ließ jedoch die künstlerische
Besonnenheit
nicht aufkommen, die
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