Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Charlotte dem Hauptmann und Eduard Ottilie. Gleichwohl ist Charlotte bereit zu entsagen, um das eheliche Treuegelöbnis zu halten. Eduard will nicht länger mit Charlotte zusammenleben, doch auch nicht auf Ottilie verzichten. Er verläßt das Haus, läßt Ottilie einstweilen in der Obhut Charlottes. Nach neun Monaten bringt Charlotte das Kind des
doppelten Ehebruchs
zur Welt und, welch ein Wunder, es hat die Gesichtszüge des Hauptmanns und die Augen Ottilies. Für Eduard aber ist das Kind nichts weiter als ein Hindernis für seine Verbindung mit Ottilie, und er zieht verzweifelt in den Krieg, um seinen Untergang zu suchen.
Er überlebt und nimmt dies als Zeichen, daß er sich ein Recht auf Ottilie erworben habe. Er kehrt zurück und bedrängt Ottilie, die Charlotte und Eduards Kind hütet. Dieses junge Mädchen, das einem
verschwundenen goldenen Zeitalter
anzugehören scheint und sich halb schon dem Himmlischen zugekehrt hat, stimmt der Verbindung mit Eduard zu, vorausgesetzt, Charlotte verzichtet auf ihn, wofür inzwischen einiges spricht. Die Geschichte steht knapp vor ihrem glücklichen Ende, da geschieht das Unglück. Froh erregt rudert Ottilie über den See und dabei gleitet ihr das Kind ins Wasser und ertrinkt. Der Tod des Kindes wirkt zunächst wie eine Erlösung. Für Eduard ist es eine
Fügung
, er sieht das letzte Hindernis einer Verbindung mit Ottilie beseitigt, und auch Charlotte willigt in die Scheidung ein, weil auch sie im Tod des Kindes einen Wink des Schicksals zu erkennen glaubt:
Ich hätte mich früher dazu entschließen sollen; durch mein Zaudern, mein Widerstreben habe ich das Kind getötet. Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt. Vergebens, daß Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in den Weg stellen; es soll etwas geschehen was ihm recht ist, was uns nicht recht scheint; und so greift es zuletzt durch, wir mögen uns gebärden wie wir wollen.
Von welcher Art ist diese Schicksalsmacht, die sich über alles hinwegsetzt und der auch ein Kind zum Opfer fällt? Es ist die Anziehung zwischen den Liebenden, der nichts widerstehen kann; eine Naturkraft eben, stärker als jede Kultur der Pflicht und Vernunft, stärker auch als die Freiheit.
An Ottilie wirkt diese Anziehungskraft vielleicht am reinsten. Bei Eduard nimmt sie die Gestalt des Begehrens an, bei Ottilie ist es eine fast somnambule Verzauberung. Sie will sich von Eduard losreißen, aber kann es nicht, auch wenn sie von Schuldgefühlen gequält wird, denn für Ottilie ist der Tod des Kindes nicht, wie für Eduard, die Beseitigung eines Hindernisses, sondern die Errichtung eines neuen. Und doch bleiben die beiden auch noch gegen Ende, als klar ist, daß sie kein Paar werden, gefangen im Kraftfeld der Liebe, dessen sanfte Gewalt Goethe so beschreibt:
Nach wie vor übten sie eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft gegen einander aus. Sie wohnten unter Einem Dache; aber selbst ohne gerade an einander zu denken, mit andern Dingen beschäftigt, von der Gesellschaft hin und her gezogen, näherten sie sich einander. Fanden sie sich in Einem Saale, so dauerte es nicht lange und sie standen, sie saßen neben einander
. 〈...〉
nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner Gebärde, keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen Zusammenseins. Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein Mensch im bewußtlosen vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt. Ja, hätte man eins von beiden am letzten Ende der Wohnung festgehalten, das andere hätte sich nach und nach von selbst, ohne Vorsatz, zu ihm hinbewegt. Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur mit einander fanden.
Die beiden haben auch zur selben Zeit das Kopfweh, sie links und er rechts. Die Anziehungskraft ist so groß, weil sie erst zusammen
Ein Mensch
werden, eine Anspielung auf das platonische Bild vom ursprünglichen Vollmenschen, dessen auseinandergeschnittene Hälften sich nun suchen.
Ist dies das
Rätsel
des Lebens, dieses Verlangen nach der Vollständigkeit im
reinen Zusammensein
, wenn das Begehren in seiner Erfüllung zur Ruhe kommt? Ist dieses Begehren, das sich auch über Sitte, Gesetz und Institutionen hinwegsetzten kann, die schicksalshaft wirkende innere Natur? Geht es von Natur aus um diese Suche nach der großen Ergänzung, durch die das Individuum erst wieder heil und ganz wird? So scheint es. In Goethes »Maximen und Reflexionen« aus dem Nachlaß findet sich der Satz:
Wer
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