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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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in sich recht ernstlich hinab steigt wird sich immer nur als Hälfte finden, er fasse nach her ein Mädchen oder eine Welt um sich zum Ganzen zu Constituieren das ist einerlei.
So gesehen wäre das Individuum nicht das Unteilbare, sondern das Abgeteilte, das nach dem passenden anderen Teil sucht. Bei der Wahlverwandtschaft zeigt sich die stärkere oder schwächere Zugehörigkeit und dementsprechend können die Teile sich neu gruppieren und fusionieren, nicht immer mit friedlichem Verlauf, sondern auch unter Schmerz und Tränen, denn was hier eine vereinigende Kraft ist, wirkt dort als zerstörerische Gewalt.
    Es sind also ambivalente Kräfte im Spiel, die deshalb auch von Goethe als
die ungeheuren zudringenden Mächte
bezeichnet werden. Vor ihnen sucht Ottilie Schutz, indem sie sich dem
Heiligen widmet
. Da sie nun aber im magnetischen Felde des
Zusammenseins
verharrt, kann sie die äußere Entsagung durch Ortswechsel und Rückkehr in die Pension nicht vollziehen. Es bleibt die innere Entsagung, denn nur so kann sie sich die Mitschuld am Tode des Kindes verzeihen. Was aber heißt es, zu entsagen und doch zugleich an dieses Kraftfeld der Liebe gebunden zu sein? Es bleibt nur ein inneres Absterben. Und so schwindet sie hin, indem sie die Nahrung verweigert, und Eduard stirbt ihr still nach.
    Die Anziehungskraft zwischen Menschen ist nicht nur eine Metapher, die zum Bereich des uneigentlichen Redens gehört, sondern wird von Goethe als Faktum verstanden. Nicht von einer Metaphysik der Geschlechterliebe ist hier die Rede, sondern durchaus von ihrer Physik. Zwischen Eduard und Ottilie waltet ein naturhafter Zwang. Diesem gegenüber gilt, woran Charlotte in der ersten Gesprächsszene des Romans erinnert:
Das Bewußtsein
ist eben
keine hinlängliche Waffe
. Und da Bewußtsein mit Freiheit verbunden ist, so ist es auch die Freiheit, die hier an ihre Grenzen stößt. Sie wird allerdings nicht völlig und überall vernichtet. Charlotte kann letztlich ihr Verlangen beherrschen, ebenso auch der Hauptmann. Eduard aber geht zugrunde, ohne Herr über sich werden zu können. Bei ihm ist die Spur der Freiheit fast vollständig ausgelöscht. Ottilies Hinschwinden indes ist nicht bloß naturhaft, sondern auch Folge eines Entschlusses, nämlich der Nahrungsverweigerung. Damit entzieht sie sich Eduard, auch wenn die Anziehung weiter wirkt.
    Ihr Tod wird am Ende überhöht in der Form einer Heiligenlegende:
Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.
    Das sind zwar die letzten Sätze der Erzählung, doch wohl nicht der eigentliche Kommentar des Erzählers. Der findet sich eher ein paar Seiten davor, in den Betrachtungen über die aufgebahrte Ottilie. Sie habe, heißt es dort, so viele
stille Tugenden
verkörpert,
von der Natur erst kurz aus ihren gehaltreichen Tiefen hervorgerufen, durch ihre gleichgültige Hand schnell wieder ausgetilgt: seltene, schöne, liebenswürdige Tugenden, deren friedliche Einwirkung die bedürftige Welt zu jeder Zeit mit wonnevollem Genügen umfängt und mit sehnsüchtiger Trauer vermißt.
    Hier stockt man zunächst einmal. Denn eigentlich gehen Ottilie und Eduard nicht an ihren Gefühlen füreinander zugrunde, sondern daran, daß die Institution der Ehe und das Treuegelöbnis, also Kultur und Sittlichkeit, ihnen Schranken errichten. So gesehen ist es eben nicht die
gleichgültige Hand
der Natur, die sie auslöscht, sondern der Konflikt zwischen Natur und Kultur, woran die beiden zugrunde gehen.
    Man muß schon, wie es Goethe in der Vorbemerkung zum Roman tut, Natur und Kultur insgesamt als eine
Natur
ansehen, um den unter Umständen tödlichen Konflikt als eine Spannung zwischen zwei Aspekten der Natur aufzufassen, die erste Natur also im Widerstreit mit der zweiten, der kulturellen. Sitte und Gesetz, vom Menschen gemacht, wäre dann die von der menschlichen Natur geforderte Selbstbindung eben dieser Natur. Erst wenn man von der einen
Natur
ausgeht, die auch die Kultur mitumschließt, zeigt sie sich in ihrer tiefen Ambivalenz, die zu Spannungen führt, in denen der Mensch zerrissen werden kann. Erst dann gibt man weder einfach dem Begehren Recht, noch dem Gesetz und der Ordnung, sondern sieht mit einem gewissen Schauder, wie hier zwei Notwendigkeiten zusammenstoßen. Erst dann auch erschließt sich der Sinn der oben zitierten Bemerkung, daß die Natur aus

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