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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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konnte, wie er einmal schrieb, sich selbst nur verstehen auf dem Umweg über die Welt. Sie war ihm rätselhaft genug. Er suchte das Rätsel nicht an der falschen Stelle, etwa in trüben Innenwelten.
    An Schiller schrieb er einmal, er empfinde Genugtuung darüber, daß er der Natur einer Sache am nächsten komme, wenn er der eigenen Natur folge. Goethe setzte großes Vertrauen in seine Instinkte und Intuitionen, in seine zuweilen traumwandlerische Sicherheit. Abwegig erschienen ihm jene philosophischen Gewaltakte, mit denen ein Subjekt sich erkenntnistheoretisch aus der Welt herausdefinierte, als gehörte es nicht innig dazu. Deshalb war ihm der ganze Kantianismus eigentlich suspekt, auch wenn er dem großen Königsberger durchaus seinen Respekt bekundete. Er war zu ungeduldig und welthungrig, um sich bei der Analyse der Erkenntnisinstrumente aufhalten zu können, auch wenn Schiller es ihm zeitweilig nahebrachte. Er wollte eben nicht das Erkennen erkennen, sondern die Welt. Hegels gegen Kant gerichteter Satz, daß die Furcht zu irren selbst der Irrtum sein könnte, war ganz in seinem Sinne. Er wollte essen und nicht bloß die Speisekarte studieren.
    Sich aus der Welt wegzudenken, wie das die Philosophen zuweilen aus methodischen Gründen tun, war ihm also schlechterdings nicht möglich. Er war immer auch draußen in der Welt, so sehr er auch in sich selbst gesammelt blieb. Er war durch und durch objektiv gestimmt. Die eigene schöpferische Intelligenz galt ihm als etwas, womit die Natur sich selbst beobachtet und die Poesie sich selbst hervorbringt. Jedes Mal dachte er das Subjektive vom Objektiven her. Es gehört in diesen Zusammenhang, daß Goethe in den Briefen der letzten Jahre das ›Ich‹ ganz wegließ.
    Das bewahrte ihn nicht davor, von der jungen literarischen Generation, die in den 1820er Jahren hochkam, als der große Egoist verschrien zu werden, als der Fürstenknecht, der sein Schäfchen ins Trockene gebracht habe und sich nicht um das Schicksal der Mühseligen und Beladenen kümmere. Börne schleuderte seine Blitze: Goethe habe seine »Feuerzunge« nicht benutzt, um die Rechte des Volkes zu verteidigen. Endlich ein herzloser Aristokrat weniger!, sagten manche bei Goethes Tod.
    Etwas ist davon hängen geblieben am Bilde Goethes: der Philister, der sich um sein schönes Gärtchen kümmert und dort Schutz sucht vor den Stürmen der Geschichte, eigensüchtig nur um das Seine besorgt. So wird Ortega y Gasset 1932, im Jahr der großen Krise, über Goethe urteilen, und auch Karl Jaspers wird 1947 gegen Goethe, mehr noch aber gegen seine Bewunderer, den Vorwurf der Weltflucht und Verantwortungslosigkeit erheben. Wir haben Situationen der Herrschaft des Bösen erlebt, sagte Jaspers, und die Schreie des Entsetzens gehört und dabei bemerkt, daß »wir keine Neigung mehr hatten, Goethe zu lesen«. Anderen aber erging es anders, sie lasen Goethe als Überlebensmittel in großer Not und Verzweiflung. Und doch zeigt sich gerade bei Goethe die sanfte Provokation der Kunst, daß sie nämlich, auch wenn sie das Schmerzliche und Entsetzliche darstellt, eine eigenartige Heiterkeit behält, die eben mit ihrem Kunstcharakter zusammenhängt. Manchen ist das seitdem ein Ärgernis und sie versuchen, die Kunst in die Nähe eines falschen Ernstes zu rücken. Goethe aber blieb dabei: Wir haben die Kunst, um nicht an der Wirklichkeit zugrunde zu gehen. Wenn uns auch übel mitgespielt wird, so haben wir immer noch das Spiel, worin wir wandeln
mit bedächt’ger Schnelle / Vom Himmel durch die Welt zur Hölle
.
    Heine, für den Goethe ein Statthalter der himmlischen Poesie auf Erden war, erklärte die Wut auf Goethe seitens seiner Schriftstellerkollegen vom Jungen Deutschland so: Goethe sei wie ein mächtiger Baum, der alle in den Schatten stellte und sie verkümmern ließ. Den Frommen war er zu heidnisch, den Moralischen zu erotisch, den Demokraten zu aristokratisch. Seine Wipfel, schreibt Heine, wuchsen so hoch, daß man keine Jakobinermütze darauf stecken konnte.
    Nichts als Kunst! – das war der Vorwurf einer jungen Generation, die für Freiheit und nationale Einheit stritt und das politische Engagement der Literatur forderte. Heine, der politisch gelegentlich mit solchen Tendenzen sympathisierte, nannte das eine Dienstverpflichtung der Nachtigallen und verteidigte Goethe, wenn er auch ein wenig über ihn spottete. Goethe, schrieb er, sei es ergangen wie dem antiken Bildhauer Pygmalion, der die Statue eines wunderschönen

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