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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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die Augen tief in ihre livide Höhlen gesunken, matt, trübe; der Blick drückte die gräßlichste Todesangst aus.«
    Tags darauf, am 22. März, setzte eine Beruhigung ein. Goethe konnte im Lehnstuhl sitzen, sprach einiges, was man nicht mehr so gut verstand, hob den einen Arm, zeichnete etwas in die Luft. Buchstaben. Der Arzt wollte ein »W« erkannt haben. Die überlieferte Bitte nach »mehr Licht« allerdings hat er selber nicht gehört.
    Es war zwölf Uhr mittags, als er sich bequem in die linke Ecke des Lehnstuhls schmiegte.
    Anmerkungen

Schlußbetrachtung oder Werden der man ist
    Goethe wollte fertig werden. Das ließ ihm bis zum Ende keine Ruhe. Den »Faust« schloß er kurz vor seinem Tod ab, »Dichtung und Wahrheit« ebenfalls. Die »Wanderjahre« ließ er 1829, in einer zweiten Fassung, erscheinen, um sie wenigstens äußerlich abzuschließen. Mit der »Werkausgabe letzter Hand« hatten die Herausgeber zwar noch einige Arbeit, doch für die Ordnung des Nachlasses hatte er viel getan, er glaubte sogar: das meiste.
    Obwohl Goethe also im Einzelnen den Abschluß suchte, war ihm die Vorstellung, das Leben komme erst am Ende zu seiner Vollendung, sehr zuwider. Jeder Lebensmoment sollte nicht erst von einem Endzweck her, sondern in sich selbst Wert und Bedeutung haben. Eine teleologische Auffassung des Lebens lehnte er ab. Keinem historischen Gesamtzweck wollte er dienen, und auch das eigene Leben wollte er nicht unter eine Zielvorgabe zwingen, auch wenn er 1780 für seine Lebensarbeit das Bild der Pyramide gebrauchte, die er bis zur Spitze vollenden wollte. Er machte sich aber darauf gefaßt, daß es ihm nicht gelingen würde. Einen Versuch war es immerhin wert. Jedenfalls wollte er fertig werden mit den vielen Dingen, die er angefangen hatte. Das war er seiner Orientierung am Werk, das gewöhnlich ja auch Anfang und Ende hat, schuldig.
    Die Resultate sind das eine, das andere ist das fortwährende Tätigsein. Hier konnte Goethe sich einen Abschluß eigentlich nicht vorstellen. Die Überzeugung der Fortdauer, sagte er zu Eckermann am 4. Februar 1829, entspringe ihm aus dem Begriff der Tätigkeit. Wenn er bis zum Ende rastlos wirke, so sei die Natur verpflichtet, ihm eine andere Form des Daseins anzuweisen, da die jetzige den schaffenden Geist nicht mehr tragen könne. Es blieb also eine schöpferische Unruhe. Als Zweiundachtzigjähriger sagte er, er strebe immer vorwärts und vergesse deshalb, was er geschrieben habe und müsse es sich neu aneignen, wobei es ihm dann wie etwas Fremdes vorkomme. Zwar sammelte er im Alter sorgfältig seine Schriften und erbat sich, wo es möglich war, seine Briefe zurück. Er wollte das Eigene um sich haben, doch er überließ es gerne anderen, eine Geschlossenheit, einen inneren Zusammenhang auszuklügeln. Er bezweifelte, ob es einen solchen überhaupt gebe und erklärte, was an seinen Werken Sinn und Bedeutung habe, könne jeweils für sich stehen und sei aus sich heraus verständlich. Er setzte auf den schöpferischen Augenblick, und das Leben war ihm eine Reihe solcher Augenblicke, die sich in den einzelnen Werken spiegeln. Insgesamt mögen sie eine große
Konfession
ergeben, doch auch von ihr gilt, daß ihr Sinn sich nicht erst vom Ende her erschließt, sondern von jedem bewegenden Moment her.
    Doch man bewegt sich nicht nur, man wird auch bewegt. Vieles hat auf ihn eingewirkt, er hat es aufgenommen, umgestaltet und darauf geantwortet. Anderes hat ihn unterschwellig beeinflußt. Er hatte keine Angst vor solcher Beeinflussung, weil er nicht Originalität um ihrer selbst willen anstrebte. Der schöpferische Akt war für ihn eine Verbindung des Individuellen mit dem Überindividuellen. Er sei, sagte er kurz vor dem Tode zu Soret, ein Kollektivsingular mit Namen Goethe. Er empfand sich durchaus als eine Art Medium für den Geist der Zeit. Er wollte sich als Einzelner behaupten und doch, wie es im »Faust« heißt, in sich fassen, was der ganzen Menschheit zugeteilt ist.
    Das beglückende Geschehen beim schöpferischen Akt, so subjektiv es auch erlebt wurde, bedeutete für ihn etwas Objektives, ein Anzeichen dafür, etwas Wahres getroffen zu haben. Vom allzu bescheidenen Rückzug der Poeten auf ihre bloße Subjektivität hielt er nicht viel. Es genügte ihm nicht, sich selbst auszudrücken, er wollte die Welt, poetisch und naturkundlich, begreifen und sich darin orientieren. Bei ihm drängte alles nach außen, zur objektiven Gestalt, die Verinnerlichung war nicht seine Sache. Er

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