Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Ertüchtigung, Mutprobe, Selbstüberwindung – sie spielten auch später eine Rolle bei den Hochgebirgswanderungen oder beim Klettern in den Ruinen Roms, wenn man über frei schwebende Balken balancieren mußte, um irgendwelchen Kunstwerken näher zu kommen. So war ihm eben auch das Straßburger Münster, ehe ihm dessen künstlerische Bedeutung aufging, eine sportliche Herausforderung. Auch davon ist in dem Aufsatz »Von deutscher Baukunst« über Erwin von Steinbach, dem sagenumwobenen Baumeister des Münsters, die Rede. Goethe schrieb ihn kurz nach seinem Straßburger Aufenthalt, und Herder verhalf dem Text zur einiger Berühmtheit, als er ihn in seine Schrift »Von deutscher Art und Kunst« aufnahm.
Angesichts des Erhabenen, hatte Kant erklärt, wird sich der Mensch seiner Winzigkeit bewußt und lernt Bescheidenheit. Aber es ist nur eine kleine Wendung erforderlich, dann zeigt sich, daß man auch selbst groß ist, beispielsweise wenn man sich klar macht, daß erst die menschliche Schöpferkraft solche Größe schafft. Menschliche Größe als schöpferische Kraft nennt der junge Goethe, und mit ihm sein Zeitalter,
Genie
. Im Genie kommt die Menschheit auf ihre wahre Höhe. Es ist Trotz dabei, auch Vermessenheit.
Wenigen ward es gegeben, einen Babelgedanken in der Seele zu zeugen
, heißt es in Goethes Schrift über das Straßburger Münster und seinen Bauherrn. Das Münster ist ein solcher Stein gewordener
Babelgedanke
, dessen Herausforderung man erst dann wirklich annimmt, wenn man ihn – besteigt. Dann gehört man nicht mehr zu den
Ameisen, die drum krabeln
oder zu den
schwachen Geschmäcklern
. Ihnen
wird’s ewig schwindlen an deinem Koloß
. Ein Genie muß schwindelfrei sein, aber auch wer sich einem solchen nähert.
Ansonsten ist Goethe entschlossen, die
freie, gesellige, bewegliche Lebensart
, die sich ihm in Straßburg bietet, zu genießen. Dabei hilft ihm der neu gewonnene Bekanntenkreis, die Tischgesellschaft bei der Mamsell Lauth, in der Nähe des Fischmarktes. Ähnlich wie in Leipzig im Hause der Schönkopfs versammeln sich hier Studenten und gestandene Herren, Junggesellen zumeist. Man dehnte das Zusammensein bis in den Nachmittag aus, sprach über Angelegenheiten des Studiums und über Liebesdinge, viel auch über Politik. Das war französische Art, so kam es dem jungen Goethe vor, der das Politisieren genauso wenig mochte wie den herben Elsässer Wein, der hier in Strömen floß. Die Autoritätsperson dieses Kreises war der achtundvierzigjährige Johann Daniel Salzmann, Amtsleiter beim Vormundschaftsgericht und Publizist mit aufklärerischer Tendenz, lebensklug, freundlich und mit der gebildeten Gesellschaft Straßburgs eng verbunden. Über ihn konnte Goethe Verbindungen knüpfen und mit ihm pflegt er intensive Gespräche über Philosophie und Religion. Salzmann ist gemeint, wenn Goethe der Klettenberg den ihm sympathischen nüchternen Gegentypus zu den frommen Leuten schildert:
ein Mann, der durch viel Erfahrung mit viel Verstand gegangen ist; der bei der Kälte des Bluts womit er von jeher die Welt betrachtet hat, gefunden zu haben glaubt: daß wir auf diese Welt gesetzt sind besonders um ihr nützlich zu sein, daß wir uns dazu fähig machen können, wozu denn auch die Religion etwas hilft.
Wie Behrisch und Langer in Leipzig, so war Salzmann in Straßburg Goethes älterer Mentor, dem gegenüber er sich als zwar genialischen, aber einer besonnenen Leitung bedürftigen Menschen charakterisiert. Er nennt sich eine
Wetterfahne
. An Salzmann wird Goethe von Sesenheim aus über seine Liebe zu Friederike Brion schreiben, es sind die wenigen direkten Zeugnisse dieser Liebesgeschichte. Goethe hielt auch nach der Straßburger Zeit noch eine Weile lang die Verbindung zu Salzmann aufrecht. Am Ende war es der Ältere, der sie einschlafen ließ. Das Genietreiben der Jüngeren war dem nüchternen Schutzpatron der Witwen und Waisen beim Vormundschaftsgericht wohl zu ferngerückt.
Schreiben Sie mir doch nächstens und glauben Sie daß es auch keine Sünde wäre, mir öfter zu schreiben
, heißt es in Goethes letztem Brief an Salzmann.
An der Mittagstafel der Mamsell Lauth fand Goethe noch einen zweiten Freund, den gleichaltrigen Studenten der Theologie Franz Lersé, den Namensgeber für den
wackeren Lerse
im »Götz von Berlichingen«. Im Stück ist Lerse der unverbrüchliche Freund, ein Inbegriff von Treue und aufrechter Gesinnung, und so hat Goethe den wirklichen Lersé, der sich übrigens mit Akzent
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