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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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löst sich das Kunstverständnis vom Prinzip der Nachahmung einer vorgegebenen, allgemeinverbindlichen Realität und wird Ausdruck einer Individualität. Von nun an soll Kunst nicht das Leben bloß nachahmen, sondern selbst Ausdruck des individuellen Lebens sein. Statt Mimesis gilt jetzt Poiesis. Damit verbunden ist der Wechsel der Norm. Es kommt jetzt nicht mehr darauf an, sich dem Vorgegebenen, dem gültigen Muster und den Konventionen anzupassen, sondern darauf, Originalität zu zeigen. Wer etwas auf sich hält, möchte ein Originalgenie sein oder wenigstens als ein solches gelten.
    So wächst der zarten Empirie der Kunst ein ungeheures Selbstbewußtsein zu, das dann in Goethes Prometheus-Gedicht –
Hier sitz ich forme Menschen / Nach meinem Bilde
– seinen kühnen Ausdruck findet. Ein forcierter Individualismus, ein starkes Selbstgefühl ist hier am Werk. Und doch hatte Herder seine Lebensphilosophie auch ins Kollektive gewendet. Der Einzelne, der sich zum Individuum bildet, ist und bleibt das Sinnzentrum. Aber das Leben, das der Einzelne spürt, lebt auch in einer Gemeinschaft, die Herder sich als eine Art größeres Individuum vorstellt. Für Herder ordnet sich das Leben in konzentrischen Kreisen, von der Familie, über die Stämme, die Völker, die Nationen bis zur ganzen Menschheit. In Bezug auf die Völker spricht er von den »Volksgeistern«, die im Garten der Menschheit wie die verschiedenen Pflanzen friedlich nebeneinander gedeihen und zum humanen Reichtum beitragen. Der Einheitspunkt des sogenannten Volksgeistes liegt nicht im Verstand, sondern tiefer: im Gefühl. Doch auch von der Kultur eines ganzen Volkes gilt, was für den Einzelnen geltend gemacht wurde: der kulturelle Ausdruck ist ein Zweck in sich selbst, ist das Erwachen zu einem höheren, einem gesteigerten Leben. Es gibt keinen Grund, erklärt Herder, auf das poetische Volksvermögen herabzublicken. Die Orginalgenies sollen vom Volke lernen und ihm seine Lieder und Märchen ablauschen. Und so lauschte man, sammelte, brachte unter die Leute bisweilen altes Volksgut, das keines war. Das »Ossian«-Epos, das beim ›Sturm und Drang‹ hoch im Kurs stand, schrieb man einem schottischen Barden aus der Urzeit zu, es stammte aber von Macpherson, einem zeitgenössischen Autor. Herder selbst veröffentlicht Goethes »Heidenröslein« in einer seiner Volksliedsammlungen. Goethe hatte nichts dagegen einzuwenden, er war selbst auf den Geschmack gekommen und sammelte im Elsaß Volkslieder, die er Herder zur Verfügung stellte.
    Es war eine Fülle von Anregungen, die Goethe von Herder empfing. Aber Goethe betont im Rückblick auch, daß manches in ihm schon vorbereitet war und sich in Gärung befand. Jedenfalls geriet er in die
glückliche Lage,
〈...〉
alles, was ich bisher gedacht, gelernt, mir zugeeignet hatte, zu komplettieren, an ein Höheres anzuknüpfen.
Damit beschreibt Goethe jenen Vorgang, daß die eigenen Intuitionen und Obsessionen in der Sphäre des objektiven Geistes ihr Recht bekommen, daß also an der Zeit war, wonach ihn verlangte und was ihm gelang.
    Die Geschichte mit Herder wird noch mit schweren Konflikten belastet werden und kurz vor Herders Tod mit einem vollkommenen Zerwürfnis enden. Deshalb ist Goethes Rückblick auf diesen Lebensgefährten nicht ungetrübt, und er gesteht sich ein, daß es mit Herder bisweilen nur auszuhalten war, wenn man sich darauf beschränkte, mit ihm Karten zu spielen.
    Anmerkungen

Fünftes Kapitel
    Jung-Stilling. Das Aperçu oder der Geistesblitz.
    Psychologie der Erweckung und des Schöpferischen. Friederike
    und der Liebesroman von Sesenheim. Nicht nach Paris.
    Shakespeare-Rede. Der verminderte Doktor. Ende in Straßburg.
    Herder, von Haus aus Theologe, schloß dem jungen Goethe eine Welt auf, in der aber das eigentlich Religiöse kaum eine Rolle spielte. Für Herder war der Mensch ein geistbeseeltes Wesen, und dieser Geist galt ihm als innere Natur des Menschen und zugleich als lebendiges Prinzip der übrigen Natur. Das gefiel dem jungen Goethe besser als die pietistische Gotteskindschaft und die herrnhuterische Jesusfrömmigkeit. Und doch, auch wenn solche Frömmigkeit inzwischen nicht mehr seine Sache war, so beeindruckten ihn auch weiterhin Menschen, die von einer starken religiösen Erfahrung geleitet wurden; bekehrte Menschen, die nicht unbedingt andere bekehren müssen, um sich ihres Glaubens sicher sein zu können; fromme Menschen ohne Missionseifer und dogmatische Rechthaberei. Er schätzte

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