Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
großer Vorbehalt: »Goethe ist würklich ein guter Mensch, nur äußerst leicht und viel zu leicht und spatzenmäßig«, schreibt Herder an seine Verlobte Karoline Flachsland in Darmstadt.
Als nach und nach die ersten großen Werke Goethes, vor allem der »Götz« und der »Werther« erschienen, reagierte Herder gegenüber Goethe zumeist kritisch und herabsetzend, bestenfalls gönnerhaft, zu anderen aber äußerte er Anerkennung, sogar Bewunderung. Goethe überrascht Herder immer aufs Neue mit seinen Werken, über die er zuvor Herder gegenüber Stillschweigen bewahrt. In »Dichtung und Wahrheit« erklärt er auch warum. Wenn er zu bestimmten Themen und Gegenständen eine Neigung gefaßt hatte, so wollte er sich die durch Herders Tadelssucht nicht beeinträchtigen lassen,
denn es ist keine Neigung
〈...〉
so stark, daß sie gegen die Mißreden vorzüglicher Menschen, in die man Vertrauen setzt, auf die Länge sich erhalten könnte
. Goethe bezieht das auf den »Götz« und vor allem auf den »Faust«, eine Geschichte, von der es bereits am Ende der Straßburger Zeit
vieltönig
in ihm
klang und summte.
Aber noch befinden wir uns in der Krankenstube Herders in Straßburg. Goethe besuchte ihn täglich, morgens und abends. Wenn Herder in einem inneren Zwiespalt war – vom genialischen Ungestüm Goethes angezogen, andererseits krittelnd – so war es bei Goethe nicht anders, einerseits spürte er
große Neigung und Verehrung
für ihn, andererseits auch
Mißbehagen
über die herablassende und kritische Behandlung. Trotzdem blieb er ganze Tage bei ihm und gewöhnte sich schließlich um so besser an sein
Schelten und Tadeln
, als er seine
ausgebreiteten Kenntnisse, seine tiefen Einsichten täglich mehr schätzen lernte
.
Welche Einsichten? Es sind diejenigen, die ein neues Denken im letzten Drittel des Jahrhunderts hervorbringen.
Das Menschenbild der Aufklärung war von der Vernunft her entwickelt, als sei sie die stärkste, die maßgebende Kraft. Eine Intellektualisierung und gesellschaftlich-moralische Normierung unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit war die Folge. Dagegen lehnte sich Herder auf, ein deutscher Rousseau. Er wollte die erstarrten Systeme und Begriffskonstruktionen auflösen und das Leben ergreifen, verstanden als Einheit von Geist und Natur, Vernunft und Gefühl, rationaler Norm und schöpferischer Freiheit. Die Vernunft, schreibt Herder einmal, ist immer eine »spätere Vernunft«. Sie arbeitet mit Begriffen der Kausalität und kann darum den schöpferischen Prozeß nicht begreifen, weil der eben nicht kausal abläuft. Herder sucht nach einer Sprache, die sich der geheimnisvollen Bewegtheit und der Vieldeutigkeit des Lebens anschmiegt, es sind oft eher Metaphern als Begriffe, und es sind eher Einfühlungen als Konstruktionen. Manches bleibt vage, angedeutet, geahnt. Bei begriffsstrengen Zeitgenossen, wie etwa Kant, wird Herder mit dem Schwebenden und Schweifenden seines Denkens und seiner Sprache Anstoß erregen. Nicht so bei Goethe. Und letztlich hat Herders Lebensphilosophie auch den Geniekult des ›Sturm und Drang‹ angeregt.
Im Bilde des Genies formulierte eine Generation ihr neu erwachtes Selbstbewußtsein gegen die hierarchische, starre, beschränkte Welt der bürgerlichen und höfischen Anständigkeit.
O meine Freunde
!, heißt es im »Werther«,
warum der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten in hohen Fluten hereinbraust
. Kleinbürgerliche Unterwerfungsbereitschaft, Broterwerb, der ganze gesellschaftliche Mechanismus, worin man sich als Rädchen und Schräubchen fühlt, dazu ein trockener Rationalismus, der kein Geheimnis respektiert – das alles empört die jungen Leute, die dem freien Geist und vor allem dem schönen Geist zugetan waren und mit dieser Neigung auf den Widerstand der alltäglichen Misere stießen. Goethe erklärt, Shakespeare, den ihm Herder nahe gebracht hatte, habe die Lähmung überwunden, indem er die Kühnheit hatte,
alle edlen Seelen
aus dem
Elysium, des sogenannten guten Geschmacks
herauszujagen, wo sie
in langweiliger Dämmerung
ein
Schatten Leben
〈...〉
verschlendern und vergähnen
.
Im deutschen ›Sturm und Drang‹ war der Künstler das bevorzugte Modell des Genies, anders als in England und Frankreich, wo auch Politiker, Naturwissenschaftler und Gesellschaftslöwen als Genie gelten konnten. Der Geniebegriff beim Künstlertum, den Herder entwickelte, hatte nachhaltige Wirkung, bis heute.
Mit der Aufwertung der irrationalen Schöpferkraft
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