Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
schrieb und aussprach (was nicht so
wacker
klingt), auch später noch in »Dichtung und Wahrheit« geschildert. Lersé erscheint dort als jemand, der
mit seiner fortgesetzten humoristischen Trockenheit uns immer zu erinnern wußte, was man sich und andern schuldig sei, und wie man sich einzurichten habe, um mit den Menschen so lange als möglich in Frieden zu leben
. Er habe solche Ermahnung nötig gehabt, da ihm von der überstandenen Krankheit her
eine gewisse Reizbarkeit übrig geblieben
war. Lersé half ihm, das
Gleichgewicht
wieder zu finden. Lersé, ein geschickter Fechter, war auch ein guter Schiedsrichter bei körperlichen und geistigen Wettkämpfen. Er bewahrte Unparteilichkeit und fuhr dazwischen, wenn es unfair zuging. Er war ein gefürchteter Debattierer: schlagfertig und fintenreich, experimentierte und spielte er mit Thesen und Argumenten. Obwohl selbst kein Jurist, erklärte er sich bereit, bei Goethes Verteidigung der Promotions-Thesen die Rolle des Opponenten zu spielen, wobei er den Freund ziemlich in die Enge trieb.
Eine Begegnung mit besonders nachhaltiger Wirkung war die mit Johann Gottfried Herder, der zwar nur fünf Jahre älter war, aber als schon berühmter Mann mit herrischem Auftreten seine Überlegenheit gerne ausspielte. Auch der junge Goethe ließ ihn zunächst als unbestrittene Autorität gelten. Goethe nennt die Bekanntschaft mit Herder – er vermeidet den Ausdruck ›Freundschaft‹ –
das
bedeutendste Ereignis
der Straßburger Zeit. Es hat sich ihm die erste Szene besonders eingeprägt. Er schildert sie im zehnten Buch von »Dichtung und Wahrheit«, wie er am Eingang des Gasthauses ›Zum Geist‹ einen Mann erblickte, der im Begriffe war, die Treppe hinaufzusteigen. Unvergeßlich, wie er die langen Rockschöße des schwarzen seidenen Mantels lässig in die Hosentasche gesteckt hatte. Eine soignierte Erscheinung, man konnte ihn für einen vornehmen Abbé halten. Herder gab sich freundlich, doch bereits beim ersten geringfügigen Anlaß sieht sich Goethe in die Rolle des tadelnswerten Schülers versetzt, und die wird er während der Straßburger Monate nicht mehr los. Das war neu, denn bisher hatten die älteren und überlegenen Personen, denen er sich angeschlossen hatte, ihn
mit Schonung zu bilden gesucht
, ihn vielleicht sogar durch
Nachgiebigkeit verzogen.
Mit Herder aber erging es ihm anders, von ihm
konnte man niemals eine Billigung erwarten, man mochte sich anstellen wie man wollte.
Goethe ertrug es, weil Herder ihm den Kopf neu aufsetzte.
Herder war nach Straßburg gekommen, um sich beim berühmten Chirurgen Lobstein einer schmerzhaften Operation an den Tränensäcken zu unterziehen. Der Boden des Säckchens mußte aufgeschnitten und der Knochen dahinter durchbohrt und mit einem Roßhaar das Zuwachsen der Öffnung verhindert werden, damit sich ein neuer Tränenkanal bilden konnte. Goethe brachte es über sich, dieser entsetzlichen Operation beizuwohnen und konnte
einem so werten Manne auf mancherlei Weise dienstlich und behülflich sein
. Dem gequälten Herder, der so tapfer aushielt, verzieh er die oft launischen und krittelnden Auftritte.
Durch seine literaturgeschichtlichen, philosophischen und theologischen Schriften berühmt und auch angefeindet, hatte Herder Mai 1769 seine Stelle als Domprediger in Riga aufgegeben und war auf einem Handelsschiff in See gestochen, um dem Ärger des Amtes und des Literaturbetriebs zu entkommen. Er habe mit »gelähmten Sinnen« gelebt, endlich sei die Zeit gekommen für die große Lockerungsübung, notiert er, während Stürme das Schiff umtosen. Mit Projekten und Plänen schwanger, ging Herder in Frankreich an Land, reiste weiter nach Paris, wo er dem skeptischen Diderot begegnete. In den Salons behandelte man ihn respektvoll, fand aber seine Ideen undeutlich und überspannt. Zurück in Deutschland erhielt er das Angebot, den depressiven Sohn des Fürstbischofs von Lübeck als Bildungs-Cicerone auf einer Europareise zu begleiten. Die Aufgabe war weit unter dem Niveau seiner Ambitionen, aber sie war gut bezahlt. So nahm er sie an, uneins mit sich selbst. In dieser Verfassung, von Ideen sprühend und unzufrieden, traf er auf den jungen Goethe.
Gewiß war Herder empfänglich für den bestrickenden Zauber der Persönlichkeit des Jüngeren, für die Offenherzigkeit, Lernbereitschaft, das Selbstbewußtsein, die Unbefangenheit, den Einfallsreichtum, das Improvisationstalent, die Verspieltheit und Unbekümmertheit. Und doch blieb ein
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