Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Gefühlen. Ihre Freundin Luise von Ziegler, ebenfalls bei Hofe, war gesund und schön und ebenso poetisch entrückt. Sie hatte sich in einem Park eine Hütte errichten lassen, wo sie die schönen Sommertage verbrachte mit einem weißen Lamm, das sie am roten Halsband über die Wiesen führte.
Die drei jungen Frauen hatten einen Freundschaftsbund geschlossen und sich neue Namen gegeben. Die Roussillon wurde ›Urania‹ genannt, Luise von Ziegler hieß ›Lila‹ und Karoline Flachsland ›Psyche‹. Da die beiden Hoffräulein mit ihren Herrschaften öfters auf Reisen waren, mußte häufig Abschied genommen werden. Eine schöne Gelegenheit zu weinen. Überhaupt wurde viel geweint, und man las sich die dazu passenden Gedichte vor. Klopstock stand hoch im Kurs, aber auch Gellert und Gleim, sowie die melancholischen »Nachtgedanken« von Edward Young, die sentimentalen Romane von Samuel Richardson und ganz unvermeidlich Rousseau. In diesem Kreis pflegte man die Wollust der Gefühle, eine tränenreiche Innigkeit und einen rokokohaft verspielten Freundschaftskult. Der Apostel der Empfindsamen war Franz Michael Leuchsenring, ein weicher, anschmiegsamer Mann, der Prinzenerzieher am Darmstädter Hof. Bei ihm war die Empfindsamkeit mit schwärmerischer Religiosität verbunden. Im übrigen war der Gefühlskult dieses Kreises eher ästhetisch als religiös. Es kam auf Gefühle an und auf das Gefühl des Gefühls, und man wollte das Empfinden empfinden. Es ging um Steigerung durch Verdopplung. Man war raffiniert, nicht naiv. Man achtete auf den sprachlichen Ausdruck wie auch auf die ganze Inszenierung. Das alles war ein Gesellschaftsspiel mit zahllosen Gelegenheiten, sich zu umhalsen, sich zu herzen und zu weinen.
Erstaunlich, daß der sarkastische Merck hier dabei war, daß er sich sogar gerne darauf einließ, vielleicht gerade deshalb, weil der Spielcharakter dieser Gefühlsinnigkeit offensichtlich war. Das konnte auch einem kühlen Kopf gefallen. Einmal war Gleim, ein Idol des Kreises, zu Besuch – wieder so eine Gelegenheit für eine empfindsame Szene. »Merck, Leuchsenring und ich«, berichtet Karoline Flachsland ihrem Herder, »schlangen uns in einer Ecke des Fensters um den alten, guten, sanften, munteren, ehrlichen Vater Gleim und überließen uns unserer vollen Empfindung der zärtlichsten Freundschaft. Er weinte eine Freudenträne, und ich, ich lag mit meinem Kopfe auf Mercks Busen; er war außerordentlich gerührt, weinte mit, und – ich weiß nicht Alles, was ich getan.«
In diesen Kreis der Empfindsamen also geriet Goethe bei seinem Besuch in Darmstadt im Frühjahr 1772. Es streckten sich ihm zahlreiche Arme entgegen, ihn zu umhalsen, denn das merkten sie hier alle: ein wahrhafter Poet war angekommen. »Goethe steckt voller Lieder« schreibt Karoline hingerissen an Herder, der nicht sonderlich erbaut war von der Begeisterung seiner Braut für diesen Goethe.
Dem gefiel es in diesem Kreis, besser als in den Amtsstuben und unter den Advokaten. Es waren schöne Frühlingstage. Goethe fühlte sich als Wanderer, der da und dort kostet und kost, und dem die Gefühlsverdoppelungen nicht fremd sind, auch er versteht sich darauf, ins Verlieben verliebt zu sein, und vor allem kann er sofort ein Gedicht daraus machen. Lila, Urania und Psyche – diese drei Grazien werden sofort bedacht, Begegnung mit lyrischem Goldrand.
Wie du das erstemal / liebahnend dem Fremdling / entgegentratst, / und deine Hand ihm reichtest, / fühlt er alles voraus / was ihm für Seligkeit / entgegen keimte. // Uns gaben die Götter / auf Erden Elisium
. Das gilt Urania, einige Strophen später ist Lila an der Reihe:
werfe den hoffenden Blick / auf Lila, sie nähert sich mir. / Himmlische Lippe! / und ich wanke, nahe mich, / blicke, seufze, wanke – / Seligkeit! Seligkeit! / Eines Kusses Gefühl!
Psyche, also Karoline Flachsland, bekommt ein eigenes Gedicht gewidmet, das noch einigen Ärger machen wird.
Die Empfindsamen unternahmen gemeinsame Spaziergänge in die schöne Umgebung, und da kam es vor, daß man sich Hügel und Felsen zueignete. Jeder hatte seine kleine nach ihm benannte Erhebung. Goethe suchte sich einen etwas höheren Felsen aus, den er sogar erkletterte, um seinen Namen einzuritzen. In einer kleinen Zeremonie weihte er den Felsen mit einem Gedicht, das er Psyche widmete. Er schildert darin die Szene, wie Karoline sich an den Felsen lehnt, das Haupt an das Moos geschmiegt und des
Abwesenden
gedenkt
,
gemeint ist Herder. Doch, so
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