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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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.
    Von hier aus wagt der Rezensent einen kühnen Ausblick auf die Problematik einer künftigen Kultur. Die Menschheit, heißt es, sei dabei, sich hinter
gläserne Mauern
in einem
Palast
einzuschließen. Die Kultur als Glaspalast also. So wird Dostojewski ein Jahrhundert später die Moderne definieren. Der junge Goethe hat das en passant vorweggenommen. Und auch Dostojewskis Schlußfolgerung deutet sich bei ihm an. Der Glaspalast, diese künstliche Welt, die man der Natur abgetrotzt hat, wird zum Ort der Bequemlichkeit. Aus der kraftvollen Selbstbehauptung gegen die Natur wird luxuriöse Erschlaffung. Es droht Dekadenz. Der Mensch werde, schreibt Goethe, allmählich
immer weicher und weicher
. Wie ließe sich solche Dekadenz allenfalls vermeiden? Auch darauf weiß der tollkühne Rezensent eine Antwort. Da Kunst und Kultur sich dem Widerstand gegen Natur verdanken, sollte man sich mit dieser widerständigen Kraft verbünden und nicht bloß die Ergebnisse leichthin genießen. Man soll also auf die Schwierigkeiten achten, die der Künstler zu überwinden hatte, und auf die Kräfte, durch die er das vermochte. So erst stärkt man den schöpferischen Trieb, der die Natur zum
Tribute
nötigt.
    Aber die hier beschworene künstlerische Kraft der Anti-Natur ist in letzter Instanz doch wieder Natur, das weiß der junge Goethe auch. Was sollte sie denn anderes sein? Es ist eine Art Naturtrieb, der sich dem, was in der Natur fertig zu sein scheint, entgegensetzt, oder, nach der überkommenen Formel, die ›natura naturans‹, die schaffende Natur, gegen die ›natura naturata‹, die gewordene Natur. In einer anderen Rezension definiert Goethe diese Kraft der natürlichen Anti-Natur als Genie.
Wir glauben überhaupt, daß das Genie nicht der Natur nachahmt, sondern selbst schafft wie die Natur
. In diesem Satz konzentriert sich Goethes frühe Ästhetik.
    Es ist noch eine andere Rezension hervorzuheben, die Goethe schrieb, als er bereits in Wetzlar war. Bei Gelegenheit einer recht trivialen, konventionellen Liebesgeschichte malt er sich ein Liebespaar aus, das einer literarischen Darstellung wahrhaft würdig wäre. Es lohnt sich, einen längeren Passus zu zitieren:
    Laß,
o Genius
unsers Vaterlandes bald einen Jüngling aufblühen, der voller Jugendkraft und Munterkeit, zuerst für seinen Kreis der beste Gesellschafter wäre, das artigste Spiel angäbe, das freudigste Liedchen sänge
〈...〉
dem die beste Tänzerin freudig die Hand reichte
〈...〉
laß ihn ein Mädchen finden, seiner wert!
    Wenn ihn heiligere Gefühle aus dem Geschwirre der Gesellschaft in die Einsamkeit leiten, laß ihn auf seiner Wallfahrt ein Mädchen entdecken, deren Seele ganze Güte, zugleich mit
einer Gestalt ganz Anmut, sich in stillem Familienkreis häuslicher tätiger Liebe glücklich entfaltet hat. Die Liebling, Freundin, Beistand ihrer Mutter, die zweite Mutter ihres Hauses ist, deren stets liebwürkende Seele jedes Herz unwiderstehlich an sich reißt, zu der Dichter und Weise willig in die Schule gingen, mit Entzücken schauten eingeborne Tugend, mitgebornen Wohlstand und Grazie. – Ja, wenn sie in Stunden einsamer Ruhe fühlt, daß ihr bei all dem Liebeverbreiten noch etwas fehlt, ein Herz, das jung und warm wie sie, mit ihr nach fernern verhülltern Seligkeiten dieser Welt ahndete, in dessen belebender Gesellschaft, sie nach all den goldnen Aussichten
ewigem Beisammensein, daurender Vereinigung, unsterblich webender Liebe
fest angeschlossen hinstrebte.
    Laß die Beiden sich finden, beim ersten Nahen werden sie dunkel und mächtig ahnden, was jedes für einen Inbegriff von Glückseligkeit in dem andern ergreift, werden nimmer voneinander lassen.
〈...〉
Wahrheit wird in seinen
〈des Jünglings〉
Liedern sein, und lebendige Schönheit, nicht bunte Seifenblasenideale, wie sie in hundert deutschen Gesängen herum wallen.
    Doch ob’s solche Mädchen gibt? ob’s solche Jünglinge geben kann?
    Der Rezensent hat Grund zur Annahme, daß es ein solches Mädchen und einen solchen Jüngling wirklich gibt. Der Jüngling ist er selbst und das Mädchen ist Lotte Buff. Und was sich zwischen ihnen abspielt, geschieht halb im Traum und halb in Wetzlar.
    Mitte Mai 1772 kam Goethe nach Wetzlar, um sich am dortigen Reichskammergericht als ›Praktikant‹ einschreiben zu lassen. Er sollte hier, wie einst auch der Vater, weitere Berufserfahrungen sammeln, besonders auf dem Gebiet des Staats- und Verwaltungsrechtes. Das Reichskammergericht war der

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