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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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einer Prozession, von Soldaten und Geistlichen geleitet, unter fortwährendem Singen und Beten durch die Stadt geführt wurde, wie man sie an der Hinrichtungsstätte festband, den Hals entblößte und »unter beständigen Zurufen der Herren Geistlichen« ihr »durch einen Streich der Kopf glücklich abgesetzt« wurde. Fast die ganze Stadt war auf den Beinen, um dem Straftheater beizuwohnen. Die entsprechende Szene im »Faust«:
Hörst du die Bürger schlürpfen nur über die Gassen! Hörst du! Kein lautes Wort. Die Glocke ruft! – Krack das Stäbchen bricht! – Es zuckt in jedem Nacken die Schärfe die nach meinem zuckt! – Die Glocke hör.
    Goethe hatte noch ein halbes Jahr zuvor bei der Lizentiaten-Prüfung in Straßburg in seiner 53. These die Todesstrafe, wie damals üblich, verteidigt. In der 55. These jedoch war er der Frage,
ob eine Frau, die ein soeben geborenes Kind umbringt, der Todesstrafe zu unterwerfen sei
ausgewichen, indem er bloß darauf hinwies, es handle sich hier um eine
Streitfrage der Doktoren
. Wofür Goethe bei der mündlichen Disputation plädierte, wissen wir nicht. In der Gretchen-Tragödie aber möchte Faust die Geliebte aus den Händen der strafenden Justiz befreien. Faust beschimpft Mephisto, den bösen Geist, dem er alle Schuld gibt.
Als Missetäterin im Kerker zu entsetzlichen Qualen
eingesperrt, das holde unselige Geschöpf!
〈...〉
Und du wiegst mich indes in abgeschmackten Freuden ein, verbirgst mir ihren wachsenden Jammer, und lässest sie hülflos verderben
. Mephisto darauf:
Sie ist die erste nicht!
Und Faust: 〈...〉
Die erste nicht! – Jammer! Jammer!
〈...〉
Mir wühlt es Mark und Leben durch das Elend dieser einzigen und du grinsest gelassen über das Schicksal von Tausenden hin
. Doch auch Faust ist es nicht um das
Schicksal von Tausenden
zu tun; diese eine, an der er schuldig geworden ist, will er vor der Strafe retten. Gretchen aber will durch die Strafe gerettet werden:
Gericht Gottes komm über mich, dein bin ich! rette mich,
und gegen Faust gewandt fleht sie:
Ihr heiligen Engel bewahret meine Seele – mir graut’s vor dir Heinrich.
Wenn auch die Strafe selbst nicht in Frage gestellt wird und mit Mephistos
Sie ist gerichtet!
besiegelt wird, so ist doch bemerkenswert, daß der Autor aus der Perspektive des verurteilten Gretchen auf den Liebhaber blickt, der ungeschoren davonkommt. Der ruft zwar noch aus
Ich lasse dich nicht!
, doch wird er sogleich von Mephisto fortgeschleppt – ob zu neuen Abenteuern oder ins Verderben, bleibt in der frühen Fassung noch unbestimmt. Ein Weiterstürmen, ohne einen Blick zurück. Dieses Lebensgefühl trieb damals auch den jungen Goethe an, der an Salzmann schrieb:
meine Freunde müssen mir verzeihen, mein nisus vorwärts ist so stark, daß ich selten mich zwingen kann Atem zu holen, und rückwärts zu sehen
    Eine Folge der Erregung um den Prozeß und die Hinrichtung der Kindsmörderin könnte auch sein, daß Goethe das Anerbieten der Straßburger juristischen Fakultät ablehnte, ihn gegen eine Gebühr doch noch zum ordentlichen Doktor der Jurisprudenz zu promovieren. Es sei ihm vergangen,
Doktor zu sein
, schreibt er an Salzmann, er habe es
so satt an aller Praxis, daß ich höchstens nur des Scheins wegen meine Schuldigkeit tue
.
    Ende Dezember 1771 hat Goethe über Georg Schlosser den darmstädtischen Regierungsbeamten Johann Heinrich Merck kennen gelernt. In »Dichtung und Wahrheit« nennt er ihn einen
eignen Mann,
der auf sein Leben
den größten Einfluß
gehabt habe.
    Wie Schlosser war auch Merck Amtsmensch und zugleich Literat. Merck hatte die Verbindung zu Goethe gesucht, weil er ihn als Autor für die »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« gewinnen wollte, ein Rezensionsorgan, dessen Leitung mit dem Jahr 1772 in seine Hände überging. Das dreimal wöchentlich erscheinende Blatt war eine Fortsetzung der alten »Frankfurter Gelehrten Zeitung«, die inzwischen wegen ihres trockenen, akademischen Stils bedeutungslos geworden war. Merck sollte wieder Schwung in die Sache bringen, neue Rezensenten gewinnen und ein breiteres, literarisch interessiertes Publikum ansprechen. Merck nutzte seine guten Verbindungen zur literarischen Welt, und es gelang ihm, prominente Mitarbeiter wie etwa Herder zu gewinnen. Er suchte aber auch neue Talente. Durch Schlosser wurde er auf Goethe aufmerksam.
    Über den ersten mit Merck verbrachten Abend, Ende Dezember 1771, schreibt Goethe an Herder:
Ich war so vergnügt, als ich sein kann, wieder einen

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