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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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reißt er sich los und räumt das Feld, übernimmt anderswo einen diplomatischen Posten. Obwohl er auch dort von Frauen und höhergestellten Kollegen umworben wird, ist er unzufrieden. Der Gedanke an Selbstmord ist für den jungen begabten und verwöhnten Mann nahezu allgegenwärtig. Bei den trockenen Amtsgeschäften ist ihm danach, und dann wieder, als er bei einer bornierten Adelsgesellschaft eine kränkende Zurücksetzung erfährt. Wenn Werther sich dann später wirklich umbringt, wird das keine Überraschung mehr sein, denn der Selbsttötungswunsch sitzt bei ihm locker und sucht nach Anlässen. Über einige Zwischenstationen kehrt er wieder in die kleine Stadt zurück, wo Lotte und Albert inzwischen geheiratet haben.
Es geht mir ein Schauder durch den ganzen Körper
〈...〉,
wenn Albert sie um den schlanken Leib faßt
, schreibt er und sitzt doch immer bei den Eheleuten herum, putzt Gemüse und liest Erbsen aus. Inzwischen fällt er ihnen zur Last. Lotte zu Werther:
Ich fürchte, ich fürchte, es ist nur die Unmöglichkeit mich zu besitzen, die Ihnen diesen Wunsch so reizend macht.
    Werther kann Lotte nicht gewinnen. Viel schlimmer aber ist, daß er jetzt nicht etwa von einer überbordenden Leidenschaft geplagt wird, sondern von der Angst vor der Abstumpfung der Einbildungskraft, die ihm bisher bei Lotte so gute Dienste geleistet hat. Es graut ihm vor der Rückkehr zum
stumpfen kalten Bewußtsein
. Gewiß, Lotte entzieht sich, aber noch schlimmer ist, daß ihm die Einbildungskraft versiegt, daß er sich selbst ausbleibt.
Ich hab keine Vorstellungskraft, kein Gefühl an der Natur und die Bücher speien mich alle an. Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles.
Das ist von größter Bedeutung. Ihm fehlt nicht die geliebte Frau, er selbst fehlt sich. Was fehlt einem, wenn man sich selbst fehlt? Die
heilige belebende Kraft, mit der ich Welten um mich schuf
, bleibt aus, und deshalb wird er sich für die Selbsttötung entscheiden.
    Die letzten Ereignisse werden von dem fiktiven Herausgeber berichtet. Im Vorfeld der Tat rafft Werther sich noch einmal zu großen Gefühlen auf. Mit Pistolen, die er sich von Albert geliehen hat, erschießt er sich. In aller Stille wird er beerdigt.
    Selbstverständlich ist der »Werther« auch ein Roman über eine unglückliche Liebe. So wurde er von den meisten gelesen. Aber er erzählt eben auch von den Schicksalen und der Macht der Einbildungskraft, die Werther sein
Herz
nennt,
das ganz allein die Quelle von allem ist, aller Kraft, aller Seligkeit und alles Elends
.
    Und nun hab ich,
schrieb Goethe an Lavater über Werther
, seiner Geschichte meine Empfindungen geliehen und so macht’s ein wunderbares Ganze
. Doch selbstverständlich ist der Autor nicht identisch mit dem Werther, auch wenn er ihm besonders nahe ist, indem er in der Briefform nicht über ihn sondern aus ihm schreibt. Hätte Goethe an die seit Rousseaus »Julie oder Die neue Héloïse« so erfolgreiche Tradition des Briefromans unmittelbar angeknüpft, so hätte er einen Briefwechsel dargestellt, also die wechselseitige Einwirkung der Briefpartner aufeinander, wodurch das Geschehen objektiviert worden wäre. Aber der Werther-Roman besteht bis auf die von einem fiktiven Herausgeber berichtete Schlußpassage ausschließlich aus Werther-Briefen, die bis auf einige wenige Briefe an Lotte und Albert an den Freund Wilhelm adressiert sind, der im Roman nicht auftritt. Deshalb fühlt sich der Leser direkt angesprochen und wird, ob er will oder nicht, ins Innere der Romanfigur hineingezogen.
    In »Dichtung und Wahrheit« erklärt Goethe, er habe diese monologische Briefform gewählt, weil er seine Selbstgespräche gerne als
Zwiegespräch
führte. Zwiegespräch? Es ist doch kein wirklicher Partner da. Dann ist es eben ein imaginierter. Ein grüblerisches Insichgehen ist nicht seine Sache. Was ihn angehen soll, muß beredet werden, zur Sprache kommen. Zur Sprache kommen heißt: zu sich selbst kommen. In der Sprache und dann im Schreiben bringt er sich hervor, stellt er sich dar, auch für sich selbst. Wer er ist, wird er immer erst wissen können, wenn er es gesagt hat. Oder geschrieben. Das erinnert an die expressiven ausschweifenden Briefe, die Goethe damals in Leipzig an Behrens geschrieben hatte. Damals hatte er das Schreiben als eine realitätsschaffende, selbsterschaffende Macht erprobt. Das waren wirkliche Briefe, doch auch schon Literatur. Der Umweg über den anderen führte damals über eine wirkliche Person, den

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