Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
im Augenblick der Liebe.
Im ›Sturm und Drang‹, jener geistig-literarischen Bewegung, die Goethe zuerst mit dem »Götz« und dann mit dem »Werther« angestoßen hatte, war der Kult des Genies so verbreitet, daß man diese Epoche sogar als Geniezeit bezeichnet hat. Goethe hat später ziemlich ungnädig auf sie zurückgeblickt:
Dieses wechselseitige
,
bis zur Ausschweifung gehende Hetzen und Treiben gab Jedem nach seiner Art einen fröhlichen Einfluß, und aus diesem Quirlen und Schaffen, aus diesem Leben und Lebenlassen, aus diesem Nehmen und Geben, welches mit freier Brust, ohne irgend einen theoretischen Leitstern, von so viel Jünglingen
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...
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ohne Rücksichten getrieben wurde, entsprang jene berühmte, berufene und verrufene Literarepoche, in welcher eine Masse junger genialer Männer, mit aller Mutigkeit und Anmaßung
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hervorbrachen, durch Anwendung ihrer Kräfte manche Freude, manches Gute, durch den Mißbrauch derselben manchen Verdruß und manches Übel stifteten
.
Von den Werken dieser
Masse junger genialer Männer
ist wenig geblieben. Man kennt fast nur noch die, welche mit dem jungen Goethe damals in Verbindung standen, vor allem Klinger, Wagner und Lenz. Doch die Gesamtwirkung war tiefgreifend und veränderte die Literatur der Folgezeit. Herder und Hamann lieferten den
theoretischen Leitstern,
der zunächst noch fehlte, der junge Schiller setzte auf seine Weise wenige Jahre später mit den »Räubern« den rebellischen Aufbruch fort, und eine Generation später werden die Romantiker in dieser Tradition nach neuer Grenzenlosigkeit Ausschau halten.
Wenn das Genie zum Synonym für den schöpferischen Menschen oder für das Schöpferische im Menschen wurde, so konnte es nicht ausbleiben, daß nicht nur das Werk, sondern durch das Werk hindurch die Person, die es geschaffen hatte, interessant wurde. Mit Goethe begann der Starkult um den Autor. Der Autor überstrahlte sein Werk, und das Leben des Künstlers galt nun selbst als eine Art Kunstwerk. Diese Vorstellung wurde zwar vom Charisma Goethes begünstigt, ergab sich jedoch auch aus dem für den ›Sturm und Drang‹ charakteristischen Gedanken, wonach die schöpferische Potentialität Vorrang genießt vor den Gestalten ihrer Verwirklichung. Wie großartig bleiben die Möglichkeiten, wenn man sie nicht durch das Nadelöhr der Wirklichkeit zieht! Das konnte hinsichtlich des Künstlers auch so gedeutet werden, daß die Persönlichkeit als Inbegriff der Möglichkeit sogar als wichtiger anzusehen sei als das Werk. Die Vielversprechenden hatten ihre Auftritte. So kam der neue Personenkult auf, der nur dadurch an Durchschlagskraft einbüßte, daß es zu viele waren, die als Genies gelten wollten.
Goethe aber war nun wirklich ein Genie, das ließ man gelten, wenn auch nicht immer neidlos. Man war sogar, mit Blick auf das Ausland, stolz auf ihn. »Alles was ich von Ihnen gelesen habe«, schrieb Christian Friedrich Daniel Schubart an Goethe, »entzückt mich, schwillt mein Herz im edlen Stolz empor, daß wir dem Auslande einen Mann entgegensetzen können, den sie nicht haben und nach ihrer Versteinerungssucht niemals haben werden.«
Was Goethe selbst betrifft, so war ihm der riesige Erfolg unheimlich. Innerlich aufgerührt hatte er den Roman geschrieben, daß er damit so viel aufrühren würde, hatte er nicht erwartet. Die unangenehme Folge war auch, daß er fortan beim großen Publikum nur als der Autor des »Werther« galt, fast bis zum Lebensende. Sogar Napoleon wird ihn beim Treffen in Erfurt 1808 auf diesen Roman ansprechen, den er siebenmal gelesen haben will. Im Gedicht »An Werther« von 1824 blitzt in dem Vers
Zum Bleiben ich, zum Scheiden du, erkoren
eine unfreiwillige Ironie auf, denn der Werther will nun wirklich nicht von ihm scheiden. Goethe wurde den frühen Geniestreich einfach nicht los.
Ärger hatte er auch mit den zahllosen Neugierigen, die den »Werther« als Schlüsselroman lasen. Man spürte den Modellen nach, pilgerte zu Jerusalems Grab, bedrängte die Kestners und machte es Goethe zum Vorwurf, daß er noch am Leben sei. Goethe hatte geahnt, daß man sich auf das vermeintlich Wiedererkennbare stürzen würde. Es war ihm recht und auch wieder nicht. An Charlotte schrieb er, das Erscheinen des Romans ankündigend:
Ich schick Euch ehstens einen Freund, der viel ähnlichs mit mir hat, und hoffe, Ihr sollt ihn gut aufnehmen.
Andererseits warnt er – wohl auch in beruhigender Absicht – Kestner, er werde im Roman zwar
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