Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
das Angebot des Lebens aus und verkümmert in sich selbst. Es wird ihm alles zur Last. Man muß den Sprung aus sich selbst heraus wagen und Fuß fassen im Leben so wie es ist: Gegen das
taedium vitae
hilft also nur eine entschiedene Öffnung für das äußere Leben.
Wie aber öffnet man sich? Darauf hat der Goethe von »Dichtung und Wahrheit« zwei Antworten: man sollte aus sich herausgehen und handeln, wie es die Weltverhältnisse erfordern, die Pflichten des Tages erfüllen; mit übertriebenen Forderungen an sich selbst bereitet man sich nur unaufhörlich Niederlagen und bringt sich um den Genuß des Lebens.
Die späteren Reflexionen über den Lebensekel als Krankheit, an der Goethe nach seiner Selbstauskunft zeitweilig gelitten hat, rücken den Gesichtspunkt des gestörten Weltbezugs in den Mittelpunkt: Wenn der Einzelne vor lauter Gefühlen das wirkliche Leben nicht mehr sieht und sich absperrt gegen die Aufgaben und Angebote des Tages. Gegen den Ekel vor dem Leben hilft nur die tätige Teilnahme am Leben.
Teil nehmen
ist für den späten Goethe der Schlüsselbegriff seiner Selbsttherapie. Das setzt ein um Objektivität bemühtes Verhältnis zur Wirklichkeit voraus. Nur so sind belebende Kräfte von außen zu gewinnen.
Willst du dich deines Wertes freuen, / So mußt der Welt du Wert verleihen
. Dies war sein Grundsatz, den er 1814 dem jungen Arthur Schopenhauer, der ihn auch bitter nötig hatte, ins Stammbuch schrieb.
Nun ist es aber so, daß der Werther-Roman von 1774 den Lebensekel anders zur Sprache bringt, es wird weniger über den Lebensekel gesprochen, sondern vor allem aus ihm. Doch da gibt es einen Begriff in den späteren Betrachtungen, der ins geistige Zentrum des Lebensekels leitet, und das ist der Begriff der
paralysierenden Einbildungskraft
.
Werther ist, wie sein Autor, ein junger Mann, der Kinder und Frauen anzieht; der beredt ist und fast sophistisch die schwache Sache zur starken machen kann; der Muße hat und nur locker mit dem bürgerlichen Berufsleben verbunden ist; der in Gefühlen schwelgt, »sentimentalisch«, wie Schiller das später nennen wird, der sich nicht nur verliebt sondern ins Verlieben verliebt ist, der das Empfinden empfindet und das Genießen genießt, ein Virtuose solcher Verdopplungen. Mit alledem aber ist er ein Mensch – der Einbildungskraft. Werthers Geschichte, die sich monologisch in Briefen an einen Freund (und Lotte und Albert) ausspricht, ist eine Liebesgeschichte und zugleich eine Schilderung dessen, was seine Einbildungskraft aus den Umständen und Personen macht.
Werther ist in eine kleine Stadt gekommen, im beginnenden Frühling. Der vermögende junge Mann soll am Ort Erbschaftsangelegenheiten im Auftrag der Familie regeln, außerdem ist er auf der Flucht vor einer verwickelten Liebesaffäre.
Ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein
, heißt es im ersten Brief, wo sogleich das Hauptthema berührt wird. Er ermahnt sich nämlich, seine
Einbildungskraft
in Grenzen zu halten. Sie soll ihm nicht die Vergangenheit vorspiegeln und ihm ein schlechtes Gewissen machen, sondern sich dem Gegenwärtigen zuwenden. Das gelingt zunächst auch. Die Landschaft umher und die kleinen Dörfer, die Baumblüte und die spielenden Kinder – alles entzückt ihn. Dabei liest er Homer, wodurch die erlebten Szenen am Dorfbrunnen literarischen Goldglanz bekommen. Er versucht sich im Zeichnen, um zu bemerken, daß die Natur von sich aus schöner ist als ihr Abbild je sein könnte. Bei einem ländlichen Tanzvergnügen lernt er Lotte kennen, von der er weiß, daß sie
so gut als verlobt
ist. Ein Frühlingsgewitter läßt die beiden an ein Gedicht Klopstocks denken. Das vereinigt die Herzen, bei Lotte für den Augenblick, bei Werther nachhaltiger. Später beobachtet er, wie Lotte für ihre jüngeren Geschwister, die sie umringen, das Brot schneidet. Ein unvergeßliches Bild für Werther. Er lernt Albert kennen, den Verlobten, befreundet sich sogar mit ihm. Man streitet miteinander über Kindstötung, Wahnsinn, Kunst und Selbstmord. Albert plädiert für Regel und Vernunft, Werther nimmt Partei für die starken Gefühle und für den Einzelfall. Doch es bleibt nicht aus, daß der Nebenbuhler ihm allmählich zu schaffen macht:
wenn sie von ihrem Bräutigam spricht mit all der Wärme, all der Liebe, da ist mir’s wie einem, der all seiner Ehren und Würden entsetzt, und dem der Degen abgenommen wird
.
Werthers Stimmung trübt sich ein, schließlich
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