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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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Gerüchten bereits 1775 das Nötige gesagt: »Zum Selbstmord wird man schwerlich verführt«.
    Auch ohne nachgeahmte Selbstmorde hatte der »Werther« einen überwältigenden Erfolg beim Publikum, er erreichte so gut wie alle damaligen Bücherleser in Deutschland. Er wurde sofort europaweit übersetzt. Allein im ersten Jahr erschienen in Deutschland sieben Auflagen, die zahllosen Raubdrucke nicht mitgerechnet. Es hagelte Gegenschriften und Parodien. Man las den Roman auch als eine Verteidigung des Selbstmordes, was die Kirchen und andere offizielle Moralhüter auf den Plan rief. In Leipzig wurde, veranlaßt von der theologischen Fakultät der Universität, der Verkauf des Buches verboten. Das stachelte die allgemeine Neugier zusätzlich an.
    Die maßgeblichen Repräsentanten der Literaturszene, die den »Götz« eher zurückhaltend aufgenommen hatten, wie Klopstock, Wieland und Lessing, sind nun voll des Lobes, auch wenn sie Tadelnswertes anzumerken haben. Lessing zum Beispiel bekundet sein »Vergnügen« an dem Buch, kritisiert aber den Charakter Werthers. Er sei zu weichlich, zwar poetisch, aber ohne moralische Schönheit.
    Der Roman machte Epoche wie kein anderes Werk der Literatur vor ihm. Mit ihm kam ein neuer Ton in die Welt, ein neuer Wille zur Subjektivität.
Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt
, schreibt Werther, und viele taten es ihm nach. Nicht jeder fand dabei eine Welt, die mitteilenswert war. Goethe hatte sich etwas von der Seele geschrieben und damit die Literatur revolutioniert. Bisher waren Seelenverlautbarungen durch die Kirchen und die öffentliche Moral reglementiert. Nun kam es zu einer Deregulierung des Redens über seelische Vorkommnisse. Man wollte, wie Werther, über alles frei und originell reden, über Liebe, Ehe, Sitte, Religion, Kunstsachen, Kindererziehung, Wahnsinn und Staatsverhältnisse. Alles, was einem auf dem Herzen liegt, sollte gesagt werden können. Die innere Natur, das Gefühl, die eigene Individualität sollte sich Gehör verschaffen dürfen. Es wurde von der allgemeinen Vernunft auf die Vernunft des Einzelnen umgestellt. Das Einzelne ist das Wahre, erklärt Werther und fährt fort,
kein Argument in der Welt bringt mich so aus der Fassung, als wenn einer mit einem unbedeutenden Gemeinspruche angezogen kommt, da ich aus ganzem Herzen rede.
    Wenn die Vernunft sich von ihrer allgemeinen Gestalt emanzipiert und individuell wird, taucht sie ein in das lebendige Element der Existenz, ins Unbewußte, Irrationale, Spontane, mit anderen Worten: ins Mysterium der Freiheit. Warum Mysterium? Weil Freiheit nicht erklärt, sondern nur gelebt werden kann. Bei jeder Erklärung verschwindet die Freiheit. Es bleiben nur noch Kausalitäten. Die zureichenden Gründe. Das war bereits im aufgeklärten Denken der Goethezeit so, und das ist bis heute so geblieben. Freiheit muß gelebt werden. Solche Figuren wie Werther haben sie vorgelebt, und den Autor Goethe hielt man nach seinem Roman auch persönlich für ein Genie der Freiheit. Er tat, so glaubte man, was ihm gefiel. Er lebte eine Unabhängigkeit vor, die nachahmenswert erschien. Daß es mit der Unabhängigkeit nicht so weit her war, haben wir gesehen. Werther hängt ab von seinen Lektüren. Deshalb war es ja auch ein Ausdruck von Freiheit, als er in einem seiner ersten Briefe schrieb:
Du fragst, ob Du mir meine Bücher schicken sollst? Lieber, ich bitte dich um Gottes willen, laß mir sie vom Hals. Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuret sein, braust dieses Herz doch genug aus sich selbst
. Keine Bücher. Aber er schildert in diesem weit ausholenden Satz, wie er dann doch zu Homer greift. Der Wille zum Eigensinn ist da, und das wirkt beim Publikum als Ermunterung.
    Dort erwacht der Geschmack am Eigensinn, man entdeckt das Eigenrecht der Dinge und Individuen. Das mußte denen sympathisch sein, die nicht nur Rädchen und Schräubchen in einem großen Getriebe sein wollten, sondern danach verlangten, ihr Eigenes zum Ausdruck zu bringen. Jeder, erklärt Werther, hat Genie in sich. Genie ist nicht nur der große Einzelne, sondern das Große in jedem Einzelnen. Doch das gesellschaftliche Regelwerk hält es nieder.
O meine Freunde!
, ruft Werther aus,
warum der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten in hohen Fluten hereinbraust, und eure staunende Seele erschüttert.
Genie ist Leben, stark genug, sich nicht an seinem Wachsen, Ausströmen, Ausdrücken hindern zu lassen. Für Werther hat jeder Genie, wenigstens

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