Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
Vom Netzwerk:
Wahrheit« heißt, er habe sich sein
nächstes Leben
wiederholt und zum ersten Mal
dichterischen Gebrauch
davon gemacht.
    Da war die Liebesgeschichte von Wetzlar. Sie liegt inzwischen anderthalb Jahre zurück, der akute Schmerz ist abgeklungen. Eine melancholische Geschichte, manchmal gibt es noch Aufwallungen, doch sonst ist alles abgemildert und verklärt, inzwischen ist kein Werther-Ton mehr in den Briefen an die Kestners. Goethe schreibt meistens an ihn, Lotte ist mitgemeint. Die liebevollen Worte, mit denen bisweilen Lotte ausdrücklich bedacht wird, bleiben in schicklichen Grenzen. Spürbar sind Formulierungslust und die Freude an witzigen Einfällen. Die Briefe sind mit Ironien gespickt, etwa wenn Goethe sich besorgt zeigt, ob denn Lotte noch ihr
blau gestreiftes Nachtjäckchen
besitze, es würde ihn sehr verdrießen, wenn dem nicht so wäre, denn er habe es
fast lieber als sie selbst
. Bei solchen Sorgen braucht man sich nun wirklich nicht um ihn zu sorgen.
    Wenn Goethe in »Dichtung und Wahrheit« den Werther-Roman eine
Generalbeichte
nennt und dazu bemerkt,
ich hatte mich durch diese Komposition, mehr als durch jede andere, aus einem stürmischen Element gerettet
, dann war offenbar nicht mehr die Lotte-Geschichte das
stürmische Element
, sondern anderes, das mit ihm in der Zwischenzeit geschehen war.
    Auf dem Rückweg von Wetzlar nach Frankfurt hatte Goethe im Herbst 1772 bei Sophie von La Roche in Ehrenbreitstein deren Tochter Maximiliane kennen gelernt und fühlte sich zu ihr hingezogen. Die Achtzehnjährige war liiert mit dem zwanzig Jahre älteren wohlhabenden und verwitweten Frankfurter Kaufmann Pietro Antonio Brentano. Wenige Wochen vor der Niederschrift des »Werther« war die Hochzeit. Goethe, der sich inzwischen in die ›Max‹ verliebt hatte, ging im Hause ein und aus, brillierte wieder einmal im Metier des erotischen Hausfreundes, stand der jungen Frau bei, die nicht so recht wußte, was ihr geschah, denn sie sah sich plötzlich in die Rolle der Stiefmutter der etwa gleichaltrigen Kinder aus Brentanos erster Ehe versetzt. Das war zuviel für sie. Der einfallsreiche Goethe gab Trost, musizierte mit ihr, brachte Bücher, las ihr aus eigenen Manuskripten vor. Merck bemerkte dazu boshaft, Goethe habe sie nebenbei über den Öl- und Käsegeruch und die Manieren ihres Ehemannes zu trösten. Der Ehemann wurde eifersüchtig. Es kam zu Szenen. Ob Goethe des Hauses verwiesen wurde oder ob er es von sich aus mied, ist unklar. An Maximilianes Mutter, Sophie von La Roche, schrieb er:
Wenn Sie wüßten, was in mir vorgegangen ist eh ich das Haus mied, Sie würden mich nicht rückzulocken denken liebe Mama, ich habe in denen schrecklichen Augenblicken für alle Zukunft gelitten.
    Die Szenen, zu denen es im Hause Brentano kam, machten in Frankfurt Skandal. Goethe und Maximiliane trafen sich eine Weile lang nur heimlich. Noch aufgewühlt von diesen Spannungen begann Goethe mit dem »Werther«. Das
stürmische Element
, aus dem dieser Roman hervorging, ist also eher hier zu suchen, als in der inzwischen milde-abgeklärten Geschichte mit Lotte. Doch der Wechsel zwischen dem Stürmischen und dem Depressiven im Roman dürfte noch andere Quellen haben, die nicht in den äußeren Konstellationen, sondern in einer inneren Bewegung zu suchen sind.
    Es wurde bereits darauf hingewiesen, wie Goethe sich einige Zeit der
Grille des Selbstmords
hingab und einen wohlgeschliffenen Dolch auf dem Nachttisch bereitliegen hatte, dann aber die
hypochondrischen Fratzen
verscheucht und
zu leben
beschlossen hatte. In der Rückschau betont Goethe, daß er sich von den Selbstmordgedanken befreit hatte, noch ehe er mit der Niederschrift des Romans über einen Selbstmörder begann. Die Krise war also überwunden. Warum dann noch schreiben? Die Antwort: um nicht nur einfach weiterzuleben, sondern es mit
Heiterkeit
tun zu können. Schreiben als Aufheiterungsarbeit, auch und gerade wenn der Stoff wenig Erheiterndes hat. Die Nachricht vom Selbstmord des Jerusalem, den er sich von Kestner hatte schildern lassen, gab ihm eine Geschichte an die Hand, um die herum er seine Gedanken und die durchlebten und durchlittenen Stimmungen, gesehen aus der poetischen
Vogelperspektive
, gruppieren konnte:
das Ganze schoß von allen Seiten zusammen und ward eine solide Masse
.
    In der rückblickenden Darstellung steht nicht der Liebeskummer sondern der
Lebensekel
im Mittelpunkt. Und tatsächlich ist er auch das eigentliche Thema des Romans. Doch was hatte

Weitere Kostenlose Bücher