Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Freund Behrens. Die Werther-Briefe sind an einen imaginären Partner gerichtet und – ans allgemeine Publikum.
Der Autor erschafft eine Figur, die sich zeigt in dem, was sie schreibt. Der Autor schreibt und er läßt schreiben. Er schwebt über der Figur und er steckt in ihr. Goethe ist Werther und er ist es nicht, denn er ist immer schon über ihn hinaus. Das führt bisweilen zu paradoxen Konstellationen. Da läßt er Werther darüber klagen, daß er beim Anblick der Natur
keinen Tropfen Seligkeit
mehr
in das
Gehirn pumpen
könne, nachdem er eben diesen Natureindruck in Worte gefaßt hat. Werther sitzt auf dem Trockenen, nicht aber der Autor, der Werther so schreiben läßt, wie er infolge seiner Erstarrung eigentlich gar nicht schreiben kann:
Wenn ich zu meinem Fenster hinaus an den fernen Hügel sehe, wie die Morgensonne über ihn her den Nebel durchbricht und den stillen Wiesengrund bescheint, und der sanfte Fluß zwischen seinen entblätterten Weiden zu mir herschlängelt, o wenn da diese herrliche Natur so starr vor mir steht
.
Solche Unstimmigkeiten werden in der Regel nicht bemerkt. Sie verweisen aber auf ein wichtiges Problem. Eine gefühlvolle Schilderung kann wirklich das entsprechende Gefühl enthalten und zum Ausdruck bringen, und sie kann andererseits das Gefühl bloß repräsentieren, ohne daß es da ist. So verhält es sich in der zitierten Passage. Werther entwirft das Bild des stillen Wiesengrundes mit der Geste: Seht her, wieviel könnte man bei diesem Bilde empfinden, aber wie traurig, ich empfinde jetzt gar nichts mehr dabei. Der Autor läßt Werther Erlebnisse beschreiben, die er hat, und solche, die er gerne hätte, die aber ausbleiben, weil er sich selbst – ausbleibt. Goethe spricht im »Werther« von der
sich selbst ermangelnden Kreatur
. Was ausbleibt, wenn man sich ausbleibt, ist schon benannt worden. Es ist das belebende Prinzip schlechthin, die Einbildungskraft.
Die Einbildungskraft ist mächtig, aber nicht übermächtig. Sie bedarf der äußeren Realität. Es kann auf die Dauer nicht gut gehen, wenn man sich, wie Werther,
die Wände, zwischen denen man gefangen sitzt, mit bunten Gestalten und lichten Aussichten bemalt
. Werther bemalt sich seine Wände nicht nur nach eigenen Vorstellungen, sondern auch nach Mustern aus der literarischen Tradition. Werther ist ein Mensch mit reichem Innenleben, aber er hat auch viel gelesen, Lebenserfahrung und Leseerfahrung gehen ineinander über. Was er fühlt und denkt und was er sich einbildet, das kommt nicht alles aus ihm selbst, sondern auch aus der Literatur. Die Bilder des einfachen Lebens sind durch Homer, die Idylle im Hause des Amtmanns durch Goldsmith, das Frühlingsgewitter durch Klopstock gesehen. Und bei der letzten Begegnung mit Lotte wird Ossian vorgelesen. In diesem Falle wird besonders deutlich: Die Literatur muß aushelfen, wenn die innere Leere droht. Sie hilft gegen den horror vacui. Wenn die Gefahr droht,
wieder zu dem stumpfen kalten Bewußtsein zurück gebracht
zu werden, dann greift man am besten nach einem Buch.
Der »Werther« hat etwas vom »Don Quijote«, dem klassischen Roman über die Macht der Literatur. Werther kämpft zwar nicht mit Windmühlen, aber er rennt mit seinen starken Lektüreeindrücken gegen die Unmöglichkeit seiner Liebe an. Realistisch ist der Roman nicht nur, weil er einen Charakter, sondern auch die kulturell-literarischen Umstände, die ihn gebildet haben, genau schildert. Werther ist eine Figur der Literatur im doppelten Sinne. Er ist erstens eine Romanfigur und zweitens als Figur ein Charakter, der durch die Literatur geformt wurde. Werther ist das, was er gelesen hat. Ein Empfindsamer aus der Schule des tintenklecksenden Säkulums, wie Schiller es nannte. Es handelt sich um einen Roman über die Macht literarischer Moden, der dann selbst zur Mode wurde und ins Leben von Zeitgenossen eingriff, die ihr Denken und Empfinden an »Werther« auszurichten begannen. Daß es dabei zu nachahmenden Selbstmorden gekommen sein soll, ist allerdings nur ein Gerücht, das sich seit Erscheinen des Buches hält. Selbst Goethe bezieht sich in seiner Autobiographie darauf:
Wie ich mich nun aber dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln, einen solchen Roman nachspielen und sich allenfalls selbst erschießen.
Der Philosoph Christian Garve hatte zu solchen
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