Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
entgegen, ob ich nicht von der andern Seite das was Menschlich, Vernünftig und Verständig an mir sei, zu meinem und anderer Nutzen und Vorteil gebrauchen
〈...〉
sollte?
Was genau ihn in Weimar erwartete, wußte er nicht, da die Einladung zwar dringlich, doch in ihrer Zweckbestimmung undeutlich war.
Einen tüchtigen Administrator und Berater des jungen Herzogs, der am 3. September 1775 die Regierungsgeschäfte von seiner Mutter, Anna Amalia, übernommen hatte, konnte man gebrauchen, das kleine Herzogtum stand nämlich wieder einmal vor dem Staatsbankrott. Die Hofhaltung des etwa 80 000 Einwohner zählenden Ländchens konnte nur mit Krediten finanziert werden. Die wirtschaftlichen Erträge waren einfach zu gering. Es gab nur kleinteilige Landwirtschaft und geringfügiges Handwerk für den Eigenbedarf, die Textilmanufaktur in Apolda war im Niedergang begriffen, weil sie gegen die niederrheinische und englische Konkurrenz nicht aufkam. Der Getreidehandel scheiterte an den zu hohen Transportkosten. Es gab so gut wie keine Ausfuhren, und die eigenen Produkte und Erträge reichten nicht aus zur Selbstversorgung. Sogar Salz mußte importiert werden, obwohl es doch zahlreiche Salinen im Lande gab, die aber schlecht bewirtschaftet waren.
Dieses Land mit geringer Wirtschaftskraft mußte einen aufgeblähten Regierungsapparat und eine aufwendige Hofhaltung tragen, was regelmäßig zu hoher Verschuldung führte, der man mit Münzfälschungen und Luftbuchungen beizukommen suchte oder durch Erhöhung der Steuer. Sie lag, als Goethe eintraf, bei 30 bis 35 Prozent, während sie im Vergleich dazu in Preußen etwa 20 Prozent oder in England 12 Prozent betrug.
Bei seiner Ankunft in Weimar hatte Goethe noch keinen Blick für die soziale Misere, nur für die eigene finanzielle Knappheit. Er wurde ja noch nicht bezahlt, noch sah es nach einem unbefristeten Besuch aus. Er mußte deshalb den Vater um Geld bitten. Es war ihm unangenehm, ihn direkt anzugehen. Er wählte den Umweg über das ›Tantchen‹ Johanna Fahlmer, eine Verwandte der Jacobis und Freundin der Mutter. Die beiden sollten herausfinden, ob der Vater die
abglänzende Herrlichkeit seines Sohnes
nicht zu schätzen wisse, indem er sich finanziell erkenntlich zeige.
Eine
abglänzende Herrlichkeit
schon nach zwei Monaten? Sie kann einstweilen nur mit der Wirkung seiner Persönlichkeit etwas zu tun haben, nicht aber mit irgendwelchen Tätigkeiten am Hofe und für das Land. Dort gilt er noch als Privatmann, Besucher und neuer Freund des jungen Herzogs, als eine brillante Figur immerhin, die großes Aufsehen macht. Goethe genießt es.
Wie eine Schlittenfahrt geht mein Leben, rasch weg und klingelnd und promenierend auf und ab
.
Tatsächlich, die erste praktische Neuerung, die er einführte, ist das Schlittschuhlaufen. Bei Hofe war man sich zu fein dafür, wenn auch der große Klopstock es in einem Gedicht geadelt hatte. Jetzt aber konnte man den jungen Herzog und seine Kammerherrn Einsiedeln und Kalb, angeführt von Goethe, ihre Kreise ziehen sehen auf dem Eis der gefrorenen Flußauen an der Ilm. Bald folgten auch die Damen. Die Älteren saßen auf Sitzbänken, die mit Kufen versehen waren. Überhaupt bestand die Wirkung des neuen Besuchers in den neuen Vergnügungen, zu denen er anstiftete. An der herzoglichen Tafel durfte er aus Standesrücksichten noch nicht speisen, aber sonst dominierte er die Geselligkeiten. Er konnte so anschaulich und witzig erzählen und aus dem Stegreif Verse improvisieren, und bei jeder sich bietenden Gelegenheit bat man ihn, aus seinen Werken vorzulesen, auch und gerade aus denen, an denen er noch schrieb, zum Beispiel aus dem »Faust«. Manchmal las er selbst, manchmal verteilte er Rollen oder man improvisierte gemeinsam etwas, immer war Goethe der Spielmacher.
Mit Goethe kam auch Bewegung ins komplizierte Menschengeflecht bei Hofe. Er spielte mit und ihm wurde mitgespielt. Seine Briefe sind voll dunkler Andeutungen:
Ich treib’s hier freilich toll genug
, schreibt er Anfang 1776 an Merck,
Wirst hoffentlich bald vernehmen, daß ich auch auf dem Theatro mundi
was zu tragieren weiß und mich in allen tragikomischen Farcen leidlich betrage.
Oder:
Ich lerne täglich mehr steuern auf der Woge der Menschheit. Bin tief in der See
. Oder:
Ich kann nichts von meiner Wirtschaft sagen, sie ist zu verwickelt.
Verwickelt
war die Lage bei Hof. Der junge Herzog war geradezu vernarrt in Goethe. Man sah den Herzog und seinen Favoriten fast immer zusammen, bei
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