Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
und Anreiz erfahren hat. Er ist ein Liebling der Familie, ein Knabe, der sich selbst nicht zum Problem wird und deshalb seine Kraft ganz auf die Entdeckung der Welt lenken kann. Er ist ungeheuer wissensdurstig und es verlangt ihn nachzuahmen, was ihn beeindruckt. Schnell begreift er, wie etwas gemacht wird, und macht es dann nach: fremde Sprachen, die Reime und Rhythmen, Bilder, das Puppenspiel, Märchen, einen feierlichen Gottesdienst, die biblischen Erzählungen. Er traut sich vieles zu und bleibt doch ehrfürchtig. Er wird geliebt, und er ist mit sich im Reinen. Er empfindet sich als Märchenprinz, als jemand, der andere mit sich selbst beschenken kann. Ohne Argwohn und Ängstlichkeit erkundet er seine Umgebung, dann verliebt er sich das erste Mal, ein Gretchen ist es, an deren Hand der Knabe die Kaiserkrönung erlebt.
Bis dahin lag das Leben in einem warmen Licht der Freundlichkeit und des anziehenden Geheimnisses, und nun die erste Verdüsterung. Der Knabe ist, auch durch dieses Mädchen, in ungünstige Gesellschaft geraten. Für den behüteten Sohn tut sich des Lebens Fremde auf, auch die erste Selbstentfremdung. Die erste Unmittelbarkeit und Unbefangenheit ist verloren. Dann das Studium in Leipzig. Der junge Mann, fast noch ein Knabe, ist stark genug, die Spontaneität seines Wesens zurückzugewinnen. Doch etwas Absichtliches bleibt nun im Spiel. Er ist nicht mehr so leichthin von sich selbst erfüllt, sondern er will etwas Unerhörtes machen, er will sich steigern. Er will Dichter werden und übt sich beim Briefeschreiben in der Kunst, auf dem Papier eine Wirklichkeit zu schaffen, durch die er in die übrige Wirklichkeit verändernd eingreift. Dabei kann es zu Verwirrungen kommen. Das Leben wird geheimnisvoll, wenn sich die Einbildungskraft einmischt, doch auch labyrinthisch. Es ist nicht immer leicht zu unterscheiden, was man lebt und was man sich bloß einbildet. Und Behrisch, der neue Freund, tut ein Übriges, um alles in Verwirrung zu bringen, denn er ist ein geistvoller Kauz.
Leipzig eroberte sich der Student mit einiger Unbekümmertheit, auch eine Liebesgeschichte ließ sich zunächst gut an, geriet dann in die Krise. Überhaupt stößt der junge Mann nach dem ersten Schwung auf Widerstände, wie am Ende der Frankfurter Kindheit. Eine innere Unstimmigkeit vor Leipzig und dann wieder nach Leipzig. Der schwer erkrankte junge Mann unternimmt bei den Herrnhutern einen Versuch mit der Frömmigkeit, ohne Erfolg, denn ihm fehlt ganz einfach das nötige Sündenbewußtsein. Schuldgefühle sind ihm eher fremd, er bedarf keines überirdischen Erlösers. Er fühlt sich vollkommen gelöst, wenn das Dichten über ihn kommt. Eine unerhörte neue lyrische Sprache bemächtigt sich seiner. Es ist wirklich eine Art Überwältigung. In Straßburg wird er zu jenem Tausendsassa, den man später ehrfurchtsvoll den »jungen Goethe« nennen wird. Er sprudelt über von Einfällen, er kann gar nicht so schnell schreiben, um alles festzuhalten. Er ist manchmal wie besessen. Wo er geht und steht fallen ihm die Verse ein, während der langen Fußmärsche über Land, bei Sonne, Regen und Schnee. Manche der frühen trotzigen Hymnen will er gegen den Sturmwind keuchend erfunden haben.
Es gelingt ihm nicht nur Poesie, er poetisiert auch das Leben. Die Liebesgeschichte mit Friederike erscheint, jedenfalls im Rückblick, wie ein idyllischer Roman. Doch ist es nicht nur der Rückblick, der die Dinge verzaubert. Es war damals der junge Mann selbst, der seine Mitwelt poetisch verzaubern kann und sich selbst. Er hat Goldsmiths »Dorfprediger von Wakefield« gelesen und spielt jetzt den Roman nach. Aus Literatur wird Leben, ehe aus Leben wieder Literatur wird.
Goethe hatte, was den Dichterruhm betrifft, vor seinem Aufbruch nach Weimar bereits alles erreicht, was man erreichen konnte. Mit dem »Götz« und mit »Werther« war er über Nacht der maßgebliche Dichter seiner Generation geworden. Geistesgeschichtliche Zäsuren bemerkt man in der Regel erst hinterher. Bei »Götz« und »Werther« aber war schon damals für die gebildete Welt klar, daß mit diesen Werken eine neue Epoche begonnen hatte. Goethe wurde über Nacht zum Kultautor, wie man das heute nennt, bewundert, beneidet und auch von den älteren Autoritäten respektiert, wenn auch gelegentlich unwillig. Er selbst war sich über seine Bedeutung im Klaren. Er hatte sie nicht angestrebt, sie war ihm zugewachsen, doch nicht unverdient, wie er fand. Begabte Leute treffen ins
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