Goethe
vom griechischen Tempel; Bild aus dem Atlas, Bilderbuch, Traum!
Aber kraftlos, das jämmerlichste »Nein« in der Pupille, floh der Blick nur in die flatternde Unrast der Lüfte hinaus, die als unbegrenzte Allheit von Fahlnis und Anarchie die traurige Öde umgrinste. »Nein! Das ist nicht Griechenland! Oder wenn es Griechenland ist . . .«
»Es will nicht gelingen!«
Schwer drehte er um. Kniep stand hinter ihm; wies zwei Blätter. »Es wird immer nur ein Schock Säulen, und das Ganze heißt Nichts! Lüge ich, dann sind es nicht die Tempel von Paestum; und lüge ich nicht, dann erschrickt man davor!«
Blitz im Auge? Licht? Hoffnung? »Ich finde die Zeichnung recht annehmbar,« lobte Goethe nach langem, genauem Betrachten. »Wahr, gewissenhaft. Besonders in den Säulenmaßen!«
»Besser: Unmaßen.« Erlöst lachte Kniep auf; wie hatte er sich vor dieser ersten Probe gefürchtet! Gleich bekam das verzagte Gesicht Farbe und Regung. »Wie das häßlich nach obenhin abschwillt! Und dieser formlose Echinus! In der Fronte gesehen, will es noch angehen. Aber im Profil – schauderhaft!«
Ja! Schauderhaft! Dennoch: trieb das geweckte Blut nun nicht schon Gegengift gegen das seuchende Gift? »Sie dürfen aber nicht vergessen: sechstes Jahrhundert vor Christo!«
»Gewiß!« Echt deutscher Glanz im geretteten Blick. Dieser Mann ist ja zugänglich, sogar freundlich! »Aber – wenn der Parthenon auch so ist?«
»Parthenon ist Perikleisches Zeitalter. Fünftes Jahrhundert.«
»Oder, überhaupt«, – rot wie ein Mädchen ward Kniep – »wenn die anderen alle so sind? In Olympia? In Delphi? Segesta? Selinunt? Girgenti? Unter einem griechischen Tempel stellt man sich doch nicht ein solches Monstrum vor?«
»Öser in Leipzig,« sagte Goethe, – wie ein Pfeil drang das Auge in die Fetzen der Wolken empor, jetzt kreist Leben im Hirn wieder, wird der Himmel nicht heller? – »Öser in Leipzig pflegte zu predigen: jedes Kunstwerk muß aus jener Zeit heraus beurteilt werden, in der es entstanden ist. Nicht, was wir Heutigen verlangen, ist für dies Urteil maßgebend, sondern . . .«
»Aber das Schöne,« unterbrach gierig der Junge, »ist doch immer von einem und demselben Gesetze? Und schön sind diese Säulen gewiß nicht!«
»Auch wenn sie es heute nicht mehr sein sollten, jedenfalls waren sie es damals. Sonst wären sie nicht gemacht worden.« Bei Zeus, dieser Bursche war ja lebhafter, als er aussah! »Und das muß uns Späteren genügen. Jede Zeit hat ihre Kunst und jede Kunst ihre eigenen Ideale.«
»Aber das, was wir Späteren doch eben die ›griechische Schönheit‹ nennen? Die absolute Gültigkeit jenes griechischen Ebenmaßes, auf das wir doch alle – Hand aufs Herz! – eingeschworen wurden?«
Nein! Es ward nicht heller! Nicht entgiftet das Gift! »Jene griechische Schönheit . . .«
Aber er fand die fortsetzenden Worte nicht mehr.
»Ich will es nun doch wagen«, erklärte Knieps veränderte Stimme, »und nehme ihn schlankweg von vorne?«
Aber Goethe hörte es nicht mehr. Sah gar nicht, daß er wieder allein war. Wolken in wirbligen Tänzen flatterten vor dem umflorten Auge. Müdigkeit, lähmend wie Schlaf, floß durch die Glieder. »Wonach sonst hätte ich mich so heißhungrig gesehnt hierher, wenn nicht nach diesem griechischen Ebenmaß als dem Stab wieder in den Strudeln dieser dämonischen Reise?« Rann denn nicht alles schon wieder seit Neapel? Stand noch irgendetwas felsenfest aufrecht? Wohin gehe ich? Was treibt mich? Warum versank jeder Meilenstein wieder im Morast, kaum gefunden und kühn überschritten? »Und ist nur irgendetwas entschieden schon?«
Nein! Nichts war entschieden! Noch immer nichts!
Ohnmächtig bückte er sich ins Gras nieder, das in vergilbten Büscheln hoch aus den Fugen des Bodens wuchs. Erhaschte auf der Stelle, wo das Steinbild Poseidons gestanden haben mochte, einen Skorpion. Traf zwischen der zwölften und dreizehnten Säule des Westperistyls eine schwarzgelbe Schlange um einen Distelschaft geringelt. Schlug aus dem Friesbrocken, der wie Goldklumpen im schmalen Violettschatten schimmerte, ein Stück heraus. Zog Brot aus der Tasche, verzehrte es mit dem hartnäckigen Willen, bedächtig zu sein. Schritt langsam im ungleichen Boden dem Tempel entlang. Bemerkte ein Loch voll bleichen Blaus im Himmel, fern nordwärts. Darunter einen Baum. Neben dem Baum eine Hütte. Ging auf diese Hütte zu. Sah, als er vor ihr stand: sie war versperrt; leer. Ein Schwein grunzte aus
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