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Goethe

Goethe

Titel: Goethe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert von Trentini
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lallenden Wilden. Und: bin es aus mir, und für mich!« Und als ob sich ihm Schlangen nachringelten, offene Mäuler ihm nachschrieen, die Erde ihn ausspiee und der Himmel ihn zurückstieße auf die wehrende Erde, jagte er von Säule zu Säule. Hinaus in den Rand der Stufen. Hinein in den Steinbruch der Cella. Durch das Licht. Durch den Schatten. Bis er, ohne zu wissen, wo er war, wieder in das Hinterhaus einfiel; an den Tod des zerborstenen Pfeilers. »Wenn mich die Weimarer nun sähen?« Mit den sinnlosen Händen rieb er die sinnlose Stirn, die entlichteten Augen. »Oder die plattfüßigen, poposicheren Bewunderer! Reise nach Italien! Wiedergeburt! Einheit! Harmonie!« In den Säulenwald hinein, durch den er von neuem gewälzt ward, daß es widerhallte, schrie er. »Und ich muß kämpfen mit diesem Lande wie mit der höllischen Bestie der Apokalypse! Heut gewonnen, morgen zerronnen! Gestern ergaunert, heute verspielt! Rom: eine Frage! Neapel: die grinsende Antwort! Und: wie weit noch? Wohin noch? Was wartet am Ende? Wer schwingt schon die Rute? Fletscht bereit schon die Zähne?«
    Da fuhr er zusammen: Genau vor seinen gefesselten Füßen im Boden, in der Nische, die von zwei vorspringenden Pfeilertrümmern der Cellaruine gebildet war, saß ein altes Weib und las Erbsen.
    »Was tun Sie da?« herrschte er, sinnlos erschrocken, das Weib an.
    Langsam hob das Weib den Blick zu ihm auf. Kein Erstaunen darin. Die Züge ihres vollkommen gelben Antlitzes sprachen kein bestimmtes Jahrzehnt aus. Die Augen waren noch groß, fest, blau. Über den steilen Bögen des Schädels lag das volle Haar, in der Mitte gescheitelt, weiß. Ein linnenes Hemde, sehr sauber, hüllte die Gestalt ein. Hals, Schulter, Rinne zu den Brüsten hinab nackt. Die rechte Hand hielt Erbsen über einem geräumigen Korb, der auf dem Schoß ruhte. Die linke las diese Erbsen aus, warf die gelesenen in einen ebenso großen Korb, der auf der Erde stand.
    »Was tust du da?« fragte er noch einmal, noch erschreckter, weil das Weib wollüstig glotzte.
    Zu schmunzeln begann das Weib. »Und Sie? Was tun Sie da?«
    Es war eine blitzschnelle Sekunde, in der er in den Tempel zurück, durch den Tempel hinaus in die Wüste blickte und mit diesem Blick sich selber vorsagte: ich bin Johann Wolfgang Goethe, geboren am 28. August 1749 zu Frankfurt, und seit dem 8. September 1786 auf der Reise in Italien. »Warum aber,« stieß er hilflos hervor, »verrichten Sie dies häusliche Geschäft nicht lieber zu Hause?«
    »Ich bin nirgends zu Hause.«
    »Irgendwo wirst du wohl ein Bett haben?«
    »Ich bin überall zu Hause.«
    »Auf dem Meere, zum Beispiel?«
    » S'intende! « Herzoffen lachte sie. »Ich bin die Tochter Poseidons, der Luft, der Erde und des Feuers. Von allem, was Vater und Mutter ist, Tochter.«
    In den Boden stampfte er. Fünf Stunden lang hatte er den Unsinn dieses Tempels durchsessen und durchwandert und den Winkel dieser Spitzbübin nicht entdeckt. Und nun er ihn entdeckt hatte, schlug ihm der Unsinn dieser Spitzbübin diesen Unsinn noch krummer und kleiner. »Wie lange sitzest du da?«
    »Von Anfang an.« Die Erbsen flogen. »Und ohne Ende. Immer.«
    Als ob er sie schlagen wollte, zäh und drohend setzte er sich ihr gegenüber in den Boden. »Aber du bist doch aus Paestum?«
    »Paestum?« Daß das Hemde hoch wackelte, kicherte sie. »Ich bin von der Bestialität des Lebens her. Genügt es?«
    Also eine Wahnsinnige!
    »Kinder?« fragte er nach langer vergeblicher Pause. »Hast du Kinder?«
    Verschmitzt grinste sie. »Warum fragst du nicht zuerst nach meinem Manne?«
    »Wo ist er?«
    »Er?« Die Erbsen flogen. »Der erste war Odysseus. Diese Kanaille! Der zweite: Julius Cäsar. Mischung zwischen Affe und Gott! Der dritte: Paulus, der Apostel. Der vierte – Paolo non faceva bambini – der vierte: die Cumaea. Der fünfte . . .« Sie warf ihm, schillernd in allen Farben der Welt, eine Handvoll Erbsen ins Gesicht. »Nach dem sechsten, siebenten, achten, neunten kam der Kaiser! Federico! Che uomo! Maschio! Bello! Miracolo di creatura! Und so weiter und weiter! Aus jedem Jahrhundert der Jahrtausende je einer. Einer nach dem anderen. Immer Männer. Und alle« – Wonne rollte die beweglichen Züge – »tot; alle tot!«
    Nach einer starren, zweifelvollen Weile, den Blick tief im Tempel drin, der nun halb schwerviolett, halb golden aus dem fahlgrünen Boden in den stahlblau gewordenen Himmel aufsproßte, fragte er: »Wie alt bist du?«
    »Ich bin, und ich werde

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