Goethe
Verzauberung wich! Als ob er aus einem fremden Gesicht zurück in sein eigenes stiege, erlöst, atmete er auf. »Es ist mir jetzt etwas Eigentümliches geschehen,« begann er fast flüsternd, halb noch im schreckhaften Zweifel darüber, ob der Spuk auch wirklich endgültig vorüber sei. »Ich habe mich plötzlich nicht in Venedig, sondern – ja, ganz einfach: irgendwo gefühlt. Und Sie sind die Ursache davon gewesen! Ich habe natürlich, was Sie da zu mir sagten, – daß es keine fremden Menschen gebe, daß jeder Mensch wie der andere sei, – schon oft gelesen. Auch für mich, in jenen einsamen Betrachtungen, wozu einen die Enttäuschungen zwingen, oft bedacht. Denn es ist doch, nicht wahr,« – schamhaft, furchtsam wagte er aufzublicken – »etwas Natürliches? Aber erlebt habe ich diese Verwandtschaft noch nie. Bis heute nicht. Erst jetzt, Ihnen gegenüber . . .«
Wie erschöpft setzte er aus.
»Es hat nämlich bis heute«, fuhr er nach langem, scheuem Warten fort, Goethe ging ehrfürchtig lauschend tief vorgebeugt, »niemand je etwas Anerkennendes zu mir gesagt. Die mich am besten kennen, am wenigsten. Fremde aber überhaupt nicht. Vielleicht war einmal irgend etwas Gutes in mir. Wahrscheinlich nicht. Aber wenn auch nicht, – es hat mir jedenfalls wohlgetan, auch dies, einmal, erlebt zu haben!« Zittrig, mit heißen Fingern, preßte er Goethes pulsende Hand. »Ja! Wohlgetan! Ich kann nicht sagen, wie wohlgetan! Denn ich erfuhr dadurch zum erstenmal, daß ein Mensch auf den andern auch Einfluß üben kann. Heilsamen Einfluß! Vielleicht wäre aus mir mehr geworden, wenn mir der Zufall einen Mann wie Sie früher in den Weg geschickt . . . . .«
»Um des Himmelswillen!« Wie gewürgt vom schmerzhaften Mitleid mit dieser armseligen Armut, die sich ihm ungebeten da an die Brust schleuderte, wehrte Goethe ab. »Sie machen das Selbstverständliche zum Verdienste und übersehen vollkommen . . . . . . .«
»Keine Angst!« unterbrach ihn der Alte sogleich. »Ich bin schon zu Ende! Ich begreife vorzüglich, daß Sie für exaltiert halten müssen, was mich da plötzlich so sehr überwältigte, denn Sie können unmöglich erraten . . . . . . .«
»O!« Aus abgründigst getroffener Brust: »Nur zu gut kann ich's erraten!«
»Aber! Mit sechzig Jahren« – wie Rost fie1 die Angst vor dem, was ihn so sehr überwältigt hatte, in die ringende Stimme zurück – »mit sechzig Jahren übersiedelt man nicht mehr in eine neue Welt! Ich fühlte mich, war für einen Augenblick aus meiner lebelangen in eine neue versetzt, ging – nicht in Venedig und nicht als der bekannte Querkopf Villet, sondern irgendwo und als nicht anderes als auch nur ein Mensch wie Sie da, neben Ihnen, und empfand das Beseligende dieser Verzauberung! Aber . . . . .« – energisch: »Bitte, verstehen Sie mich! Locken Sie mich nicht weiter in diese Oase, die meine Vergangenheit wie einen furchtbaren Irrtum ausstreichen und meine letzten Jahre unsicher machen müßte. Ich bin schon zu alt . . . . . .«
Mit einem Ruck machte Goethe halt; das Herz schlug ihm bis zum Halse empor. »Ich nahm Sie, wie Sie sind. Und nehme Sie, wie Sie sind. Und würde mir empört jede Absicht verbieten, Sie von Ihrer Person zu entfernen. Denn gerade so, wie Sie sind, erscheinen Sie mir völlig, ja gänzlich gemäß!« Und obwohl er sich nun ganz bewußt dessen war, daß er sein Gefühl für diesen Mann mit dem gezieltesten Willen verdopple, weil ihm die Gewalt dieser nackten Eröffnung schrankenlose Beharrung gebot, – er ließ nicht ab vom berauschenden Wort, das immer glühender beweisen sollte, wie jedes Leben gerechtfertigt sei, das dem Gemüt die Fähigkeit bewahrt habe, eine Stunde wie diese zu erleben. Und bemerkte daher auch gar nicht, daß, während er so drangvoll heiß redete, Monsieur Villet schon wieder in seiner Haut und in Versailles steckte. Wohl: Monsieur lauschte noch immer dankbar, ja kindlich großäugig; aber erreichen konnte ihn das stürmische Liebeswort nicht mehr. Gerüstet und geladen sprang er denn richtig in die erste Pause hinein, die sich ihm anbot. Also nun, endlich: was der heutige Tag gebracht hat! Wolle Monsieur Möller es hören? Er glaube jetzt so ziemlich alles, was in Venedig zu sehen sei, gesehen zu haben: Die Gäßchen, die Plätze, die Kirchen, die Museen, das Meer, die Lagunen, – alles! Und trotzdem: Nichts! »Nein! Ich habe kein Bild, keinen wirklichen Eindruck! Weiß nicht, was Venedig im Urteil
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