Goethe
sechs Wochen gesagt hätte, daß er in sechs Wochen mit einem stockfremden Lohndiener ellenlange Gespräche halten würde! »Wer mir gesagt hätte«, – wonnig schritt er, wieder aus dem Hause, übers glanzfeuchte Pflaster – »daß ich in meinem Leben nocheinmal einherschlendern werde wie ein Bursche von vierundzwanzig! Und daß ich, reich wie ein König von dieser Entdeckung, entdecken werde, daß der Mensch, jeder Mensch nur ein Mensch ist! – O, Monsieur!« Mit überirdischer Höflichkeit lief er dem zierlichen alten Herrn entgegen, der, die Rechte auf der Elfenbeinstockkrücke, atemlos um die scharfe Ecke geeilt kam. Wie charmant, daß Herr Villet ihn nicht vergessen habe! Und sogleich sorglich anbequemt dem unsicheren Schritt und mit eifrigem Ohr herabgebeugt zur schneeweißen Perücke, reichte er dem Franzosen den Arm. Wie? Der Scirocco habe Herrn Villet den Tag verdorben? Wie schade! Nein! Er habe gar nicht gemerkt, daß Scirocco gehe. Was? Monsieur Villet – und alt? Wenn man so aussah? » Vraiment! Wenn ich mit fünfundvierzig noch so biegsam herumgehen und so lebhaft in die Welt hinausschauen werde wie Sie mit sechzig?«
»Schmeichler!«
»Wir Deutsche schmeicheln niemals!« Wie frisch er die Lippen aufmachte. Das glückliche Lächeln genoß, das um den vertrockneten Galliermund flog. Es sei doch keine Bagatelle, sich im Herbst vom warmen Kamin in Versailles aufzumachen und ins Land der frierenden Hunde und Banditen herabzusteigen? Und wie emsig Monsieur von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit wandere! »Was war heute Ihre Beute? Darf ich's wissen?«
»Gern!« Monsieur Villet strahlte verklärt. Er habe heute mittag – » Oh, mon chapeau! « Wie erschreckte Schneckenhörner gingen die zarten Chevalierarme in die Höhe: der Wind, weil sie in die Piazzetta eingeschwenkt waren, hatte ihm den Zweispitz von der Perücke gerissen, nun stolperte er über Pfützen und Schlammhaufen impertinent der Lagune zu.
»Da!« lachte Goethe, daß ihm die Tränen über die Wangen liefen, und brachte den Hut zurück.
»Sie entzückender Mensch!«
»Augenblick noch!« Und bedachtsam stellte sich Goethe dem zitternden Männlein so vor, daß ihm der Wind nicht etwa auch noch den Schnupfen bringe, und bürstete den Hut mit dem Ärmel immer wieder und wieder.
»Um Gotteswillen, bemühen Sie sich doch nicht länger! Es geht schon! Es ist schon genug!«
Aber Goethe fand eben, daß es noch nicht genug sei, und machte sich auch mit dem zweiten Ärmel an die Arbeit. »Ein Mann, der sich so peinlich soigniert trägt wie Sie . . .«
»Aber es ist mir entsetzlich, daß Sie sich so plagen! Wie kommen Sie nur dazu! Ich bitte Sie inständig . . . .«
»So!« Endlich saß der Hut wieder.
Und nun gehe man besser vom Wasser fort. Und rasch nahm er den gebrechlichen schwarzseidenen Arm wieder auf und führte den Fremden, wie ein Sohn den verehrten Vater führt, in den Markusplatz zurück. Also, was habe der Tag heute gebracht? Diese Frage aber war mit so herzlicher Anteilnahme getan, daß es dem Alten geradezu warm ins einsame, heimwehkranke Gemüt fiel. Dankbar legte er den Arm tiefer in den des Begleiters, die furchtsamen Züge erhellten sich und das Wort, das ihm sonst zögernd von den Lippen kam,. floß frei und verschwenderisch. Er sei so glücklich, sich aussprechen zu dürfen. Wenn man so alt sei und einen Buben von neun Jahren zu Hause habe . . . .
»Ja! Richtig! Haben Sie Nachrichten von Emile?«
Weinerlich, gleich wieder verzagt: »Keine! Noch immer nicht!«
Das brauche Monsieur aber auch gar nicht zu erschrecken, tröstete Goethe. Bestimmt; mit Urteil. Er sei nun schon über fünf Wochen von Leipzig weg und habe noch keinen einzigen Brief bekommen. In den nächsten Tagen lange gewiß Post ein.
»Glauben Sie?«
»Zweifellos!«
»Aber ich möchte spätestens übermorgen reisen. Ich muß weiter!«
»Das hat nichts auf sich. Sie lassen mir Ihre nächste Adresse, ich hole Ihre Briefe im Gasthof und sende sie mit der Eilpost nach.« Aber auch, wenn noch wochenlang nichts käme, – was solle einem gesunden, in der Hut des Hauses geborgenen Kinde geschehen? Gewiß: Eltern ängstigen sich immer. Gottlob aber meistens umsonst! Emile sitzt jetzt gemütlich zu Hause, er hat soeben mit Mademoiselle Blanche einen Spaziergang gemacht, nun trinkt er mit Behagen seine Schokolade und denkt: hat's mein Papa aber schön! Der kann in der Welt herumreisen, – und die Welt, ach, die Welt ist ja herrlich! Dabei sinnt er
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