Goethe
Zurückgehen mehr in die Zeiten des Perikles gibt. Wer Michelangelo kennt, kann nimmer Praxiteles zum Kanon haben!«
»Das ist – eben die Frage.«
»Und wie man sie beantwortet, hängt einzig vom Maß der Gewissenlosigkeit ab, das der Frager aufbringt. Und dieser Gewissenlosigkeit geringstes Maß heißt: Autoritätsglaube, – und das ist: Faulheit!«
»Sie haben aber doch selber die Griechen als Muster hingestellt?«
»Junger Mann!« Von fahlem Schein ward das gelbe, alte Gesicht überflammt. »Als ob Sie nicht gesehen hätten, daß Michelangelo wie kein zweiter bei ihnen allein in die Schule gegangen ist. Die Form der Griechen bleibt Kanon, bis eine höhere erreicht ist. Der Inhalt aber, der nach Form schreit, – nicht um Raum und Zeitmaße, sondern um seelische Raum und Zeitlosigkeiten stieg er seit ihnen. Und von diesem Mehr – und dies Mehr ist doch nichts anderes als der Beweis dafür, daß die Menschheit vorschreitet! – von diesem Mehr soll ein gewissenhafter Künstler zurückkriechen zu jenem Weniger? Bedenken Sie doch! Nur zum Beispiel gesagt, als Teilbild: Die Alten hatten einen Olymp, aber keinen Himmel!«
Wie vom Blitz gerührt, starrte Goethe ihn an.
»Und da reden Sie von einer zwiefachen Kunst!«
So urnackt dämonische Unbarmherzigkeitluft also streicht um die Höhe, wo der Scheideweg läuft? Dennoch: Im Geklapper des eisigen Frosts fühlte Goethe, wie ihn die Parze dennoch zwang, auch von dieser Höhe hinab in die tiefste Tiefe zu graben. O! Briefe einfachster Wonne und Ruhe schrieb er nach Hause! Rom als die morgenblanke Tafel sanft erlauchten Gemäldes zeigte er; Rast der zerrissenen Seele. Während diese Seele, versteckt jedem Auge, in den Schrauben aller Foltern gezwickt stöhnte! »Vielleicht wird man sich«, stammelte er mit dem falschen Tonfall der Stimme, die zweifelt, »nur durch einen Ausgleich aus der Pein dieser zwei Wahlen retten können? Indem man sich zum Künstler dieser zweiten Kunst macht . . .?«
»Macht?« Schrei der haßwilden Schmähung. »Sich zum Künstler macht? «
»Aber« – wirr beide Hände streckte Goethe aus in die erloschene Gebärde des lautlosen Abends – »ich habe Pflichten! Menschen, die von mir abhängen! Die mich brauchen! Denen ich das Bewußtsein angewöhnt habe, daß sie auf meine Hilfe . . .«
»Plagen Sie sich nicht!« Wie mit Bissen gesprochen jedes Wort. »Wenn Sie Rom verlassen können, ohne zu wissen, daß Sie Künstler sein müssen . . .«
»Und wenn nicht?«
Da beschnellte der Alte wie zur Antwort den Schritt. Knapp vor einem würfelförmigen Steine, der aus dem bergseitigen Rain aufwuchs, grauviolett gegen den sonnenachglänzenden Opal der Luft, machte er halt. Säße ein Mensch jetzt auf dem moosigen Stein, gegen die schwindende Helle gewendet, und sähe hinüber nach der Hütte, die sich dunkelblau mit den Pyramiden des Lorbeers aus der Fahlnis des Hanges hob, – unkenntlichen Angesichts wie der Sohn der Dämmerung tauchte er auf aus dem Rätsel dieser Dämmerung. Denn wie aus ferner, ins Fernste entflohener Welt schimmerte das erlöschende Rom empor in diese violettsilbrige Gräue, die seegrüne Kuppel von Sankt Peter und, aus dem Aureliatale, die erdunkelnden Bögen der Aqua Paola. »Wenn nicht,« – wie der Terror eines Märtyrer scholl es – »dann macht man's wie er! Michelangelo! Daß der ein Künstler war, daran zweifelt kein Mensch mehr. Aber daß er es zustande gebracht hat, als der größte der Künstler auch der evangelischeste Christ zu sein, – der sittlichste Mann, den die neue Welt sah – wenn Sie das nicht erfühlen, dann: invano studiar e spettar! Und trotzdem, mein Freund,« – und nun schmetterte die verrauchte Stimme, wie die Johannis des Täufers gefordert haben mußte – »trotzdem: bis in seine letzte Stunde hat ihn der Wurm des Zweifels zernagt, ob es nicht trotzdem das »Höhere, Bessere« gewesen wäre, als ein schmieriger Mönch unter den Knöpfen der Geißel ekstatisch zu grinsen. Sie brauchen also« – die Zähne fletschte er zwischen den Strähnen des Barts – »nicht zu fürchten, daß der Kelch, den Sie nach diesem Kampf etwa annehmen, ein Becher . . .«
» . . . der Lust ist?« Jagend, im Ansturm unbändig erlösenden Lichts stieß es Goethe hervor.
»Des nadellosen Behagens. Künstler sein, heißt: Priester sein! Aber einen Priester, der – seit Golgatha! – nicht den ewigen Skorpion dieses Streites in sich trägt, speit die Welt, und nicht etwa nur Gott, heutzutage
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