Goethe
Reinheit eines Mannesantlitzes saß, unter den hauchverwehten Locken, um die Schläfen des Daniel. Alle Wollust des Freiheitsgrußes im himmelwärts gewandten Jonas. Und alle Anmut und Würde des weiblichen Geheimnisses um den Mund der Delphica. Schwieg da nicht, diesen gegenüber, der wächserne Apoll? Schlief nicht, diesen gegenüber, die Hera? War er nicht gedankenlos, dem fliehenden Adam gegenüber, der Torso des Herkules? Ha! wie spielend hatte dagegen Raffael, der fortunato garçon Bilder desselben Ursprungs – später! – in seine Loggien gemalt! Und wie unbeteiligt an der Mühle jedweden Innenkampfs thronten die Thronenden in seiner Disputa, standen die Lehrer und Schüler in der Schule von Athen! Denn auch die Regung des Gehirns ist gebunden an die Welt der Sinne, – und nur die Seele, die leidet, rüttelt machtvoll gegen die Stäbe des Käfigs. Nicht in Lust oder Wollust, Glanz oder Not ihrer Leiber wanden sich ja die Gestalten auf dieser Decke, rangen sie, reckten sie die Hände, rollten oder geduldeten ihre entloderten Augen; sondern im Orkan einer Begierde, deren Furor alles Irdische verneinte. »Nicht nur: zwischen der Kunst und dem Verzicht auf mich selbst also heißt es wählen«, tobte in Stößen die Brust, die keine Stimme mehr hatte, »sondern auch noch: zwischen der Kunst des Erlebens und der Kunst des Verzichtens!« Und im Schrecken die Augen aufgeschlagen, – und: Rom von Ponte Molle tiberabwärts bis zur Cäcilia Metella, und von Sankt Peter tiberüber bis hinaus in die rostbraune Campagna hinter der Porta Maggiore, und mit dem Schneesaum der Sabiner und dem goldenen Kraterwerk der Albaner über allem Flimmer der Trümmer, – wie auf königlicher Schüssel hielt es die Pranke eines Riesen, dem der titanisch aus der Erde gewachsene Leib von der Sehnsucht nach drüben in jedem Muskel bebte, hinan in die Glorie des Himmels, zum Opfer. Und eine Stimme, groß, läutete aus der Tiefe der Tiefen empor in die Höhe der Höhen: Agnus dei, qui tollis peccata mundi.
» Miserere nobis! « stammelte der Geschlagene im Dampf des Rausches. » Miserere nobis! Miserere . . . ! «
»Ah?«
Als ob ihn ein Steinwurf vor die Brust getroffen hätte, sprang Goethe auf: Der hagere, schwarze Alte stand vor ihm.
»Kommen Sie schon zu mir?« lächelte der Mann nach einer unerträglichen Pause des Anschauens in das zerrissene Gesicht hinein. »Das – ergötzt mich!«
Einen wilden Schritt wich Goethe zurück. Die Lippen, bis sie bluteten, bissen sich. Dieser Fremde brauchte sein Taumeln nicht zu bemerken! »Zeigen Sie mir«, stieß er endlich steif aufgerafft hervor, »was Sie mir zu zeigen haben!«
Aber sie schritten, durch einen feierlichen Luftraum voneinander getrennt, lange in dem Wiesenpfad auf und nieder, ehe der Alte zu reden begann. »Sie haben mir« hob er an, »bei unserem seltsamen Zusammentreffen den Zweifel ausgedrückt . . .«
»Ich habe mich falsch ausgedrückt,« unterbrach Goethe sofort. »Nicht darum handelt es sich, ob man das eine oder das andere wählen müsse; sondern darum: welches von beiden, von der Rangordnung der unbedingten Werte aus gesehen, das unbedingt Höhere, Bessere ist. Ich bin zwar in der Meinung auferzogen, daß ein großer Künstler kein nicht guter Mensch sein könne; aber es wäre immerhin möglich . . .«
»Möglich?« Grell lachte der Mann auf. »Es ist gewiß , daß von dem Menschen vor allem verlangt wird, daß er gut sei!«
»Was ist gut?«
»Vollkommen!«
Und im selben Augenblick sah Goethe die ersten Zeichen der Dämmerung aus dem Himmel fallen. Die Sonne war im Meer verglitten, ein aschfarbiger Schleier rollte wie Vorhang von den westlichen Säulen des Horizonts nieder auf die Erde. »Ich war in der Sixtina,« sagte er wie bewußtlos in diesen Vorhang hinein. »Komme soeben aus ihr.«
»Und?« Eine Fußangel schien dem schwarzen Mann den Schritt zu ankern. »Also?«
»Eine widrige Komplikation! Es gibt also auch eine zweite Art der Kunst? Die christliche?«
»So vielleicht,« – wie Fanfare des Hohns – »wie es auch einen zweiten Gott neben dem ersten gibt?!«
»Zwischen der christlichen und der heidnischen gähnt ein Abgrund!«
»Sind Sie vor Christi Geburt in Athen auf die Welt gekommen und haben seither in Athen geschlafen?«
»Ich bin zum erstenmal in Rom.«
»In der Welt, mein Freund! Sonst könnte Ihnen nicht verborgen geblieben sein, daß es seit dem Erscheinen Christi – in der Philosophie, wie in der Kunst! – kein gewolltes
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